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Autor Thema: [Background] Wege zur Erkenntnis, Wege zur Erlösung  (Gelesen 86033 mal)
Beschreibung: Remy le Duc: Charakterbogen, Präludium und Tagebuch
Wuschel
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« Antworten #105 am: Juni 18, 2009, 23:48:53 »

Jonathan nahm das Notitzbuch entgegen. Nachdem er alle Zeilen erfasst hatte, lächelte er. "Ich weiß warum ich euch an meiner Seite sehen will. Ihr seht dem Tod ins Auge, und doch begehrt ihr die Erkenntnis. Also habt ihr euch bereits entschieden." Er nickte.

"Ein paar Dinge werde ich euch beantworten, andere werdet ihr selbst ergründen müssen. Ich beginne in der Vergangenheit. Dieses Wissen, was ich nun preisgebe, teilen nicht viele von uns Kainiten, hütet es gut. Es gibt teile der Bibel, die nur uns bekannt sind. Kains Geschichte endet für euch mit seinem Weggang, doch das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Ersteinmal reicht es zu Wissen, daß er sich ungerecht von Gott behandelt fühlte. Er opferte ihm sein liebstes, seinen Bruder. Nicht aus Neid, sondern aus Liebe. Doch er beging den ersten Mord und mit dem Mal des Mörders verurteilte Er ihn zu einem Leben in Einsamkeit. Er traf im Land Nod auf Lillith, sie gab ihm ihr Blut zu trinken, sie lehrte ihn so ihre Magick aus Macht alles zu erschffen, was sie brauchte. Da erschienen ihm drei Erzengel, die ihm Gnade anboten. Doch er schlug sie aus, bevorzugte, seinen eigenen Weg zu gehen, denn seine Sünde war geschehen, ob der Herr ihm vergeben hatte, oder nicht. Durch die Engel verfluchte Gott ihn drei Mal. Doch der vierte Engel, Gabriel, schenkte ihm ein Licht, einen Ausweg. Den Weg zur Gnade. Golconda. Soviel erst einmal zu Kain."
Er sah noch einmal kontrollierend über Remys Fragen.
"Ah, eines noch... Kain gab den Fluch weiter durch sein Blut. Das ist auch seine einzige Nahrung, denn alles ander zerfällt in seinem Mund zu Asche." Er nahm sich Remys Schreibgerät und hakte einige Dinge ab.

"Was euch und mich angeht... Ich studiere den Tod seit nunmehr vierhundertzweiundsechzig Jahren, einhundertdreiunddreißig tagen, und etwa 5 Stunden. Mein Erschaffer ist von anderer Gesinnung. Er strebt nicht nach Erlösung, sondern nach Macht. Er nimmt sich was er will. Ich wandle auf den Pfaden meines Clansgründers. Man nennt ihn: Kappadozius, eines der Dreizehn überlebenden Kindeskinder von Kain. Ich suche die Erlösung im Glauben. Er ist so stark in mir, daß ich sogar selbst wahrhaft Heiliges verbreiten kann, ähnlich des Heiligen, daß einer Reliquie zu eigen ist. Doch bis dahin ist es ein harter Weg, und noch bin ich nicht am Ende angekommen.
Bald werde ich für die Menschen hier dahingerafft sein, und mir ein neues Plätzchen, einen neuen Namen suchen. Ich ließ Guilliaume anreisen, den für ihn wurde es auch bald Zeit. Er ist mein Diener, doch er überschritt nie die Schwelle des Todes. Er ist ein guter Mann, doch er schien mir bisher nicht geeignet. Deshalb bin ich von euch angetan. Ich gebot Guillaume, euch unter seine Fittiche zu nehmen. Er scheint euch lieb gewonnen zu haben, wie er mir berichtete. Der Gute scheint einfach zu sehr am Leben zu hängen...
Doch ich gerate ins plaudern... Ich werde euch helfen, euch von eurem Fluch zu befreien. Doch dafür müßt ihr den Fluch, der auf meiner Familie lastet, auf euch nehmen, aber auch ihr Gaben."
Jonathan nahm das Messer, mit dem sich Remy den Schnitt beigebracht hatte, und krempelte ebenfalls den Ärmel hoch.
Es war kein Trick. Remy sah förmlich, wie sich die Muskeln der Hand des Alten anspannten, als er mit dem Messer quer über seinen Arm fuhr. Es passierte reingarnichts. Die Klinge hinterließ einen weißen Streifen, vom festen Druck, doch es Schnitt ihn nicht. Jonathans Arme wurden plötzlich rosiger, die Muskeln schwollen vor seinen Augen auf das Maß eines Holzfällers an. Jonathan schnitt erneut...
und die Klinge brach einfach am Griff ab. Ihr Klirren durchschnitt die Stille, jedoch nicht die Haut des Mannes. Achtlos legte er das Heft beiseite.

"Was ist nun Remy?" fragte er klar und bestimmt, "Wählt ihr den Tod oder den Tod und die Auferstehung?"
Er streckte die Hand aus. Sollte er sie nehmen oder verweigern?
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Aphiel
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« Antworten #106 am: Juni 19, 2009, 00:38:05 »

Noch zögerte Remy, aber es fehlte nicht mehr viel. Ihm war ebenfalls aufgefallen, dass Jonathan einige Fragen nicht beantwortet hatte. Kain war dreifach verflucht worden, und doch war sein Blut der Schlüssel zu diesem ... dieser Existenz. Und gerade dass Jonathan den Fluch seiner eigenen Familie erwähnt hatte, machte ihn erneut neugierig.

Der Alte hatte ihn gehörig beeindruckt. Als das Messer brach, hatte Remy sofort die Klinge aufgehoben und betrachtet. Es war kein Trick gewesen... und doch...

Hastig griff er das Notizbuch und schrieb noch ein paar kurze Zeilen. Doch die Eile und fehlende Sorgsamkeit im Schriftbild mussten Jonathan einfach auffallen, und sie waren verräterisch genug.

Was auch immer die Antworten sein würden, innerlich konnte Remy nicht länger verleugnen, dass seine Entscheidung schon fast gefallen war. Dieses letzte Zögern war kaum mehr als ... nun, vielleicht brauchte er diese Minuten noch, um sich selbst zu versichern, dass er das Richtige tat. Um sich gänzlich davon zu überzeugen, was er im Begriff war zu tun: er würde seine Seele opfern, für die Chance auf eine spätere Erlösung und den Ausblick darauf, seiner eigenen Familie einen uralten Fluch zu ersparen.

Erwartungsvoll, fast schon begierig sah Remy den alten Mann an, als er ihm das Notizbuch reichen wollte. Dann hastiger noch als zuvor ergänzte er eine allerletzte Frage und gab das Buch frei. Das Schreibgerät legte er dann wieder auf den Tisch.

Jonathan würde die ersten Fragen vielleicht als sentimental empfinden, aber Remy war nun einmal keine gefühllose Leiche. Noch nicht.
Was ist der Fluch eurer Familie des Todes? Was ist der Preis für diesen Handel, außer meinem Leben und meiner Seele?
Werde ich Guillaume wiedersehen oder kann ich mich von ihm verabschieden?
Gewährt ihr mir einen letzten Tag, bevor ich mich an eure Seite begebe?


Ganz unten auf der Seite nun stand der letzte Satz, den Remy in aller Hast hingekritzelt hatte.
Bereut Ihr zu sein, was ihr geworden seid?
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« Letzte Änderung: Juni 19, 2009, 15:00:58 von Aphiel » Gespeichert

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Wuschel
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« Antworten #107 am: Juni 19, 2009, 17:59:22 »

Jonathan zog seine Hand zurück und nahm mit verwunderten Gesichtausdruck das Notitzbuch. Nachdem er die Fragen überflogen hatte, runzelte er die Stirn und dachte nach.
"Also gut," sagte er, " Ich verstehe dies als Zustimmung.
Folgendes wird geschehen: Ihr werdet morgen Guillaume aufsuchen. Er wird bescheid wissen, und ihr beide inszeniert euren eigenen Tod, Remy, Ihr müßt Guillaume vertrauen.
Er kennt einige Geheimnisse des Todes. Fürchtet euch nicht davor. Er wird  euch für den Augen anderer in eine Leiche verwandeln, ihr werdet jedoch nicht das Bewußtsein verlieren. Woimmer man euch hinbringt, Guillaume wird euch abholen, wenn es sicher ist."
Jonathan wurde langsam ungeduldig. Er zeigte Remy damit mehr, als seine Worte sagten. Er war gestresst, fing an, auf und ab zu gehen. Remy konnte durch das Fenster erkennen, was der Grund dafür war. Am Horizont zeigten sich im schwarzen Nachthimmel, die ersten leisen Spuren des Tages.
Er fuhr in schneller werdendem Ton fort: "Danach kommt ihr wieder hierher und übertretet die Schwelle des Todes. Ich werde euch mit meinem Blute wiedererwecken.
Ihr könnt nie wieder das Antlitz der Sonne sehen. Ihr werdet als einzige Nahrung Blut zu euch nehmen. Ihr seid durch Blut fähig dem Tode und der Zeit zu trotzen, nur Feuer und Sonnenlicht können euch etwas ahnhaben. Eure Haut wird stark wie Stahl, eure Wahrnehmung jenseits aller Vorstellungskraft und ihr gewinnt sogar Macht über den Tod. Etwas davon wird euch immer anhaften, so wie mir."
Wahrscheinlich sprach er von seiner Blässe, doch Remy sah etwas anderes. Jonathans Blick wirkte wilder, er war zwar jenseits davon die Kontrolle zu verlieren, doch er verwendete sichtlich Anstrengung darauf. Jonathans harscher Gesichtsausdruck erweichte.
"Ich selbst hatte nie die Wahl und allmählich verstehe ich, weshalb. Geht jetzt Remy. Keine Fragen mehr."
Das erste Orange zeigte sich am Horizont.
« Letzte Änderung: Juni 20, 2009, 18:18:28 von Wuschel » Gespeichert
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« Antworten #108 am: Juni 19, 2009, 18:56:25 »

Remy begann ebenfalls zu verstehen, warum Jonathan einige Fragen nicht beantwortet hatte. Er hatte also nie die Wahl gehabt, so zu werden, und doch hatte er sein Schicksal ertragen, ja, sich sogar auf den Weg zur Erlösung begeben. Welch innere Stärke dies angesichts der Umstände erfordern musste, konnte der junge Franzose nur erahnen.

Er begriff nun auch, dass es nicht der Normalfall war, vor diese Wahl gestellt zu sein. Und dass es für Jonathan sicher nicht einfach war, ihn jetzt noch einmal gehen zu lassen. Aber doch war dieser Mann, dieser wandelnde Tote ihm gegenüber ehrlich gewesen. Und er bot ihm die Chance, seinem unausweichlichen Ende mit offenen Augen zu begegnen.

In diesem Augenblick wünschte sich Remy, dass er wieder reden könnte. Er wollte dem Alten versichern, dass er wiederkommen würde. Und er wollte ihm danken, dass er ihm diese Wahl liess. Denn Remy hatte keinerlei Zweifel dran, dass Jonathan ihn auch einfach hätte töten können, wenn er nur gewollt hätte, dass sein Geheimnis bewahrt blieb. Er war gerührt von dem Vertrauen, das ihm hier entgegengebracht wurde.

Schnell steckte er sein Schreibgerät zurück in die Umhängetasche. Das Notizbuch, das gerade im Begriff war in der Kutte zu verschwinden, wurde noch einmal aufgeschlagen. Die Seite mit den verräterischen Fragen riss Remy einfach heraus und verbrannte sie im Kohlebecken, erst dann stecke er das Buch weg. Sein Blick bemerkte die Morgendämmerung und ein Teil seines Geistes wunderte sich darüber, fragte sich, wie lange die Beschwörung der weissen Frau eigentlich gedauert haben mochte.

Als letztes trat Remy noch einmal vor den Alten hin. Immernoch unfähig zu sprechen, ergriff er dessen Hand und nickte ihm ernsthaft zu, während er ihm in die Augen blickte. Ja, ich werde wiederkommen. sollte das heissen und Remy hoffe, dass Jonathan dies auch so verstand. Dann verschwand er, den Weg zurück, den er gekommen war, bis in seine Zelle, bevor man ihm zum Morgengebet abholen würde.
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« Antworten #109 am: Juni 21, 2009, 23:15:14 »

Als er sich auf das Bett niedergesetzt hatte um noch ein wenig auszuruhen, überkahm in ungewollt Müdigkeit. Zum Glück wurde er schnell abgeholt, von Herold, wie schon die letzten Tage. Guillaume begrüßte ihn wie jeden Morgen und sie kamen stumm überein, sich nach den Pflichten zu treffen und zu unterhalten.
Remy würde noch oft an seinen letzten Tag denken, seine letzte Morgenandacht, sein letztes Frühstück. Obwohl ihm dies bewußt war, senkte sich Frieden über ihn. Der Tag war warm und leicht wolkig. Der Wind trug von der Ferne den Duft blühender Pflanzen mit sich. Alles ging wohlorganisiert seinen Gang.

Nachdem die Mönche ihre tägliche Arbeit auf sich genommen hatten, konnten Remy und Guillaume auf eigenen Pfaden wandeln. Wo konnten sie sich besser ungestört unterhalten, als im gehen? Sie wandelten Ziellos und scheinbar interessiert über den Hof. Ihren Gesten nach zu urteilen, erklärte Guillaume seinem Schüler in deren Muttersprache die prachtvollen Errungenschaften des Polnischen Adels, doch in Wirklichkeit sprachen sie über etwas anderes:

"Remy, ich kann deine Entscheidung nicht verstehen, aber ich respektiere sie. Ich verstehe auch Jonathan, denn du bist ihm wirklich ähnlicher als ich..." Guillaume zog ein kleines Briefchen hervor und las die Zeilen noch einmal durch.
"Jonathan schreibt, wir werden deinen Tod inzsenieren müssen. Das ist wahrscheinlich die beste Entscheidung. Daß ich ohnmächtig geworden bin, damals bei dem Unfall, hat mir doch einiges erspart. Doch ich fürchte die Herren Inquisitoren haben dich im Visier. Je schneller du dich ihren Blicken entziehst, desto besser.
Nun ich habe einiges von Jonathan gelernt," wechselte er das Thema," ich bin auch etwas älter als ich aussehe... aber bei weitem nicht so wie Jonathan."
Guillaume sprach frei mit Remy, denn nun konnte er über das sprechen, was ihn die ganze Zeit in Gefahr hätte bringen können, und Remy erkannte, daß er seinen Mentor anscheinend weniger kannte als er dachte.
"Ich kann dich wie einen Toten aussehen lassen, doch wie lassen wir den Tod echt aussehen?"
« Letzte Änderung: Juni 21, 2009, 23:23:15 von Wuschel » Gespeichert
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« Antworten #110 am: Juni 22, 2009, 00:29:13 »

Sein letzter Tag auf der Erde. Zumindest sein letzter Tag als lebender Mensch. Und er begann ihn schweigend.

Remy fühlte sich friedlich, aber auch frei, oder vielmehr befreit. Das Wissen, dass dies sein letzter Sonnenaufgang war, und dass nach der nächsten Nacht keine seiner irdischen Sorgen ihm mehr etwas anhaben konnten stärkte ihn irgendwie. Es gab ihm auch die Kraft, mit dem umzugehen, was ihn erwartete. Wie viele Menschen hatten schon diese Gelegenheit? Wie viele hatten, wie er, die Gelegenheit mit sich und ihren Gedanken allein zu sein? Er vermochte seine Überlegungen und Gefühle nicht zu äußern, nicht einmal gegenüber Guillaume, der ihn durch diesen letzten Tag begleitete. Um so intensiver spürte er sie in sich pulsieren.

Er nahm auf seine Weise Abschied von der Welt, die ihm so vertraut war, von den morgendlichen Gebeten und Pflichten, von den Nöten des Menschseins, vom Essen. Am meisten aber genoss er die wärmenden Strahlen der Sonne. Zu wissen, dass sie nie wieder seine Haut berühren sollten, schmerzte ihn schon sehr, darum kostete er jede Sekunde aus.

Nach der wenigen freien Zeit traf er sich wie verabredet mit Guillaume im Hof. Interesse an der falschen Unterhaltung vorgebend, so dass diese Szene für jegliche Augen glaubhaft wirkte, kamen sie auf das zu sprechen, was wirklich in ihren Herzen vorging. Sein Freund und Mentor war ihm wichtig, so wie ein Bruder oder zweiter Vater. Zu gern hätte er aus seinem Mund mehr Zustimmung erfahren, doch der Ältere respektierte seine Entscheidung zumindest. Und konnte man ihm die Einwände verdenken? Gewissermaßen wählte Remy freiwillig die Verdammnis, und jeder wirkliche Freund wäre doch da um sein Seelenheil besorgt gewesen. Und irgendwie war es ja auch eine Art Abschied, für Guillaume, der ihn nun gehen lassen musste. Remy fühlte sich da übrigens ganz ähnlich.

Tief sog er die warme Luft ein, den Duft der Blüten in den Gärten und Hainen in der Nähe der Burg. Würde er je wieder eine Blume riechen können? Der Gedanke beschäftigte ihn noch, als Guillaume auf das Thema seines Todes zu sprechen kam. Zunächst wollte Remy nichts passendes einfallen. Der Tod hatte viele Gesichter, aber welches verhängnisvolle Ereignis konnte ihn hier, in der Sicherheit der Burgmauern schon ereilen? Wenn er nicht gerade in eine Schwertklinge lief oder Gift zu sich nahm, würde nur noch ein Unfall in Frage kommen. Aber wo könnte er hier schon einen Unfall haben. Sollte er sich eine Treppe hinabstürzen? Oder sich von einem Buchregal erschlagen lassen? Oder etwa im Brunnen ertrinken? Das alles schien zu gewollt, und nicht glaubwürdig genug. Nachdenklich sah Remy in den blauen Himmel hinauf, wo sich unter den wenigen weißen Wolken die Schwalben balgten, die hier irgendwo ihre Nester bauten. Alles um ihn herum schien zu verblassen, nun da er sich ganz dieser plötzlich so wichtigen Frage widmen musste.

Dann keimte ein Gedanke in Remys Hirn, und je mehr er darüber nachdachte, desto besser erschien er ihm. Ein Leuchten trat in die Augen des Schreibers. Mit Gesten, die wohl auf die Architektur der sie umgebenden Gebäude hindeuten sollten, antwortete er seinem Freund leise und unbefangen "Guillaume, diese Burg steht doch auf einem Felsen, nicht wahr? Meinst du, dass die Wege um die Klippen herum vielleicht gefährlich genug sind, dass ein Ortsunkundiger wie ich dort den Halt verlieren könnte, wenn er nicht darauf achtet, wo er hintritt?" Das Schmunzeln, das Remy bei seiner unschuldig formulierten Fragestellung in sich aufsteigen fühlte, erreichte aber nur seine Augen; bis zu seinen Lippen wollte er es nicht gelangen lassen und gab sich große Mühe, seine Mimik im Zaum zu halten. Ein wenig lauter fuhr er fort: "Ich wäre wirklich daran interessiert, wo diese Schwalben in den Felsspalten ihre Nester bauen. Denkst du, man kann sich das vielleicht aus der Nähe ansehen?"

Damit war die Idee für sein Ableben geboren, und sie nahm nun all seine Gedanken ein. Jedes Detail des Plans musste bedacht werden, und er tat dies mit Hingabe. Es sollte auch nicht weiter schwerfallen, einen solchen Sturz vorzutäuschen; Remy würde lediglich seiner Kutte ein paar abgewetzte Stellen und Risse beibringen müssen, doch das wäre in wenigen Minuten erledigt. Und mit ein wenig Staub auf Gesicht, Händen und Füßen würde es schon niemand bezweifeln. Erst recht nicht, wenn dieser Unfall vor oder während der Abenddämmerung geschah und man ihn nur im Licht der Fackeln auffinden würde. Sollte die Magie, die Guillaume von Jonathan gelernt hatte, tatsächlich so wirken, wie er es beschrieben hatte, dürfte niemand den Unterschied zu einen wirklichen tödlichen Unfall bezweifeln. Nicht einmal die Inquisitoren, der Großinquisitor allen vorn.

Nun hing alles an Guillaume. Würde er diesen Plan gutheißen? Und wann sollten sie wohl seiner Ansicht nach am Besten damit beginnen?
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« Letzte Änderung: Juni 25, 2009, 23:51:46 von Aphiel » Gespeichert

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« Antworten #111 am: Juni 25, 2009, 23:52:12 »

Unbewußt lenkte Remy seinen Mentor, während der Plan in ihm heranreifte, in Richtung des Burgtores. Schon bald hatten sie begonnen, die Burg zu umrunden. Die Weichsel rauschte unter ihnen durch ihr Bett. In vielen tausend Jahren würde sie die Burg unterspült haben...
Guillaume lächelte verschmitzt, beihnahe schelmisch.
Er nahm seinen Rosenkranz zur Hand und warf ihn zielsicher in den Abgrund, daß er an einem Ast von dem Allerlei an Gestrüpp hängenblieb, das rund um die Burg wucherte.
"Oh nein, Remy!" rief er betont, "Wie konnte ich nur meinen Rosenkranz fallen lassen, er gehörte meiner Mutter, Gott hab sie seelig! Wartet Remy, ihr wollt doch nicht da runterklettern!" Guillaume ergriff Remy scheinbar warnend am Arm. Er fuhr mit seiner Hand unter Remys Ärmel und packte zu. Sein Griff war unmenschlich stark.
Leise sagte er: "Vertraue mir, auch wenn ich nicht der bin, der ich vorgab zu sein, unsere geimeinsame Lebenszeit ist echt."
Remy konnte so von Guillaume gesichert ein Stück den Hang hinabklettern. Der Kalkstein war schroff und bot gute Möglichkeiten sich zu halten. Guillaume dirigierte ihn ein wenig.
Er lag auf dem Boden, den Oberkörper so weit wie möglich nach vorn gereckt. Remy konnte sich einen sicheren Stand finden, zumindest so lange, wie er noch im sicheren Griff Guillaumes war. "Mach dich bereit, und schütze dein Gesicht... und, Remy?...Du bist doch mutiger, als ich dachte. Noch heute morgen hast du geschwiegen, ich kenne dich gut genug, ich weiß wie du es verbirgst, und jetzt schmiedest du einen fast genialen Plan," sagte er und schloß die Augen.
Tatsächlich, Remy hatte gesprochen. Doch für dieses Geheimnis blieb in diesem Moment keine Zeit.
Von Guillaumes Arm ging plötzlich eine Eiseskälte aus, die auf Remy übersprang. Sie breitete sich über seinen Arm aus, und erreichte bald seine Brust. Wie ein Überzug aus Tod legte sich die Kälte über ihn. Sein Arm wurde wächsern und ließ sich nicht mehr bewegen. Wie in einem unsichbaren Kokon versteiften nach und nach seine Glieder.
Remy kannte das Gefühl des Eingesperrtseins im eigenen Körper, doch nun war er völlig gelähmt.

Guillaume ließ los.
Hilflos schlidderte Remy den Abhang hinunter, steif wie ein Brett, mit dem Arm vorm Gesicht.
Unsanft landete er am sandigen Ufer, doch wenigestens rutschte er nicht ins Wasser. Er lag bäuchlings und sein steifer Arm bewahrte ihn davor, mit dem Gesicht im grobkörnigen Sand zu liegen. Seine Augen standen offen, doch er konnte nicht einmal blinzeln. Sein Herz schlug schwach und langsam, genau wie sein Atem flach und langsam war.
Oben hörte er Guilllaume laut rufen: "Au secours! Au secours!" Die Stimme wurde leiser.
Wie lange er wohl dort liegen würde?
Die Zeit verflog nicht. Das rythmische Schlagen der Wellen beruhigte ihn zwar, doch es kam ihm unendlich lang vor, bis endlich jemand kam.
Er hörte wie sie sich oben sammelten und zwei von ihnen kletterten an Seilen gesichert den Hang hinunter. Remy hielt den Atem an, als grobe Hände versuchten ihn zu wecken.
"Der is hin," sagte einer der Männer, "steif wie ein Brett."
"Armer Kerl," sagte der Andere.
Von oben konnte Remy Guillaumes wehklagen hören.
Sie einigten sich darauf, Remy mit einer Trage nach oben zu bringen. Inzwischen hatte man ihn umgedreht, doch er konnte immernoch nichts sehen, denn sein Arm war steif vor seinem Gesicht erstarrt, seine Kleidung lag auf den Augen auf. Zum Glück fühlte er kaum etwas, denn sie zu schließen war unmöglich, selbst wenn er einen Versuch gewagt hätte.
Man hob ihn nach einer Weile des Wartens hoch, und band ihn an einer Trage fest. So zog man ihn hinauf, und bedeckte ihn mit einem Laken.
Guillaume wehklagte noch immer, machte sich lautstark Vorwürfe.
Ein Alptraum kam auf Remy zu. Er wurde bergauf getragen. Er konnte heraushören, daß Guillaume vorhatte, baldigst abzureisen. Er wolle Remy nach Hause bringen, zu seiner Familie.

Er wurde in eine Art Kiste gelegt. Erst als der Deckel mit Hammerschlägen zugenagelt wurde, dämmerte ihm, wo er war: In einem Sarg.
Nach Rechts und Links konnte er durch das einfallende Licht sehen. Wenigstens würde er nicht ersticken.
Bald danach wurde er noch einmal transportiert,
dann war er allein.

--- eine Stunde nach Mitternacht ---

Remy war eingedöst.
Die mangelnde Atemluft hatte ihn doch zu schaffen gemacht. Düstere Träume plagten ihn, an mehr konnte er sich dessen auch später nicht entsinnen.
Ein Knacken weckte ihn.
Endlich, der Sarg wurde aufgebrochen.
Jemand legte ihm die Hand aufs Haupt. Wie eine Dusche des Lebens, oder vielmehr wie ein Vakuum des Guten zog sich der Tod aus ihm zurück. Remy erschlaffte. Alles tat ihm weh, als sei er ein alter Mann.
Guillaume richtete ihn auf und zischte: "Bist du in Ordnung?" Er sah Remy genau in die Augen, als wolle er die Klarheit seines Geistes kontrollieren.
« Letzte Änderung: Juni 26, 2009, 00:51:01 von Wuschel » Gespeichert
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« Antworten #112 am: Juni 26, 2009, 13:42:47 »

Ich habe gesprochen! Aber wie? Der Gedanke sprang in dem Augenblick in Remys Kopf, da Guillaume es ansprach, und fast war es so, als wollte ihn diese Erkenntnis nicht mehr loslassen. Doch so sehr der junge Mönch sich auch bemühte, er konnte keine weiteren Worte hervorbringen. Und es blieb auch gar keine Zeit mehr dazu.

Mit Guillaumes Hilfe hatte er sich ein Stück am Felsen herabgelassen. Zweifelnd sah er nach unten, da war immer noch ein gutes Stück Weg übrig. Doch in dem Moment war es schon zu spät. Er schaffte es gerade noch, seinen anderen Arm vor das Gesicht zu ziehen, als sich der Mantel des Todes um ihn legte. In dem Augenblick griff Angst nach ihm und er fragte sich, was wohl passieren würde, wenn dieser Plan fehlschlug oder er sich auf dem Weg nach unten etwas brach. Dann liess Guillaume ihn los und er landete unsanft am sandigen Ufer.

Was nun begann war eine Zeit der Angst für Remy. Er wollte sich bewegen, er wollte tief durchatmen und wollte seine Augen schliessen ... doch kein Körperteil gehorchte seinem Willen. Und mit jeder verstreichenden Minute wuchs die Angst, dass er auf ewig so würde liegen müssen. Als sich dann endlich Stimmen näherten, war Remy erleichtert, doch nur, bis sie ihn in den Sarg legten. Erneut keimte jene panische Furcht in ihm hoch, schlimmer noch als zuvor. Jeder Schlag des Hammers vertiefte seine Befürchtungen, denn wer konnte schon sagen, dass sie ihn nicht einfach so begruben? Der Plan war geglückt, er wurde für tot gehalten ... aber er war doch gar nicht tot! Hatte die Täuschung vielleicht zu gut funktioniert? Was, wenn dies außer Kontrolle geriet und Guillaume nicht mehr eingreifen konnte?

Die Ungewissheit wich nur zögerlich, und mit der unendlich langsam verstreichenden Zeit konnte er sich nun auch wieder anderen Gedanken widmen. Sein Körper war ja nun in diesem nutzlosen Zustand, und selbst wenn er sich hätte bewegen können, so wäre er doch noch immer stumm. Oder hatte das Schweigen ihn wieder verlassen? War es nur im entscheidenden Augenblick des Gesprächs mit Guillaume ausgesetzt gewesen? Aber wieso? War dies Gottes Wille, war seine Rolle im Plan des Allmächtigen etwa doch noch nicht zu Ende?

Über diesen Gedanken verlor sich Remys müder Geist. Er hatte schon in der Nacht zuvor nicht geschlafen und die mangelnde Nachtruhe holte ihn nun ein. Sacht trieb sein Bewusstsein in die Dunkelheit...

---später---

... bis das Knacken ihn weckte. Sofort kam er zu sich, aber seine Glieder gehorchten seinem Willen noch immer nicht. Sein Geist mochte einen Moment der Ruhe gefunden haben, doch seinem Körper war dies nicht vergönnt gewesen; er war noch immer in Guillaumes Zauber gefangen. Dann spürte er die Berührung und plötzlich löste sich die Lähmung. Er sank zusammen, einen ersten tiefen Atemzug nehmend. Dumpf fühlte er, wie die Hände ihn aufrichteten. Ein Gesicht tauchte vor ihm auf. Guillaume.

Remy nahm all seine Anstrengung zusammen, all seine Willenskraft und bündelte sie in dem Versuch, seinem Mentor eine Antwort zu geben. Und... es gelang!

"Ja... ich ... es tut alles weh, aber ... ich bin soweit in Ordnung."

Seine Stimme klang so rauh wie trockener Kiesel. Es bereitete Remy Schmerzen, sich zu bewegen, ein Schmerz den er nicht verstand oder erklären konnte. Er fühlte sich, als wenn seine Muskeln bei jeder noch so kleinen Bewegung von hunderten winziger Nadelstiche getroffen würden. So hatte er sich bisher nur selten gefühlt. Einmal ging es ihm so, als sie die Bibliothek in Fleury umräumten und er vier Tage lang Schriftstücke und Bücher hin- und hertragen musste. Doch da taten ihm nur die Arme weh. Das hier betraf seinen ganzen Leib und seine Gliedmaßen fühlten sich schwach und müde an. Er wollte am liebsten schlafen, doch nicht in dem Sarg.

Unter Stöhnen versuchte der junge Franzose aus der Kiste zu klettern. Er wollte stehen und seinen Körper untersuchen, ob er sich nicht doch etwas gebrochen hatte, von dem er unter all den Schmerzen bislang nichts bemerkt hatte. Seine Umgebung hatte er bisher noch nicht eines Blickes gewürdigt. Nun, da er mit zitternden Händen versuchte, sich am Rand des Sargs abzustützen, glitt sein Blick neugierig umher.

"Guillaume, sag, wo sind wir hier?"
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« Letzte Änderung: Juni 26, 2009, 13:45:11 von Aphiel » Gespeichert

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« Antworten #113 am: Juli 02, 2009, 17:53:11 »

Remys Körper schien bis auf ein paar Schrammen und Abschürfungen in Ordnung zu sein. Sie brannten ein wenig, doch es war zu ignorieren.
Um ihn war es kühl. Er konnte nicht viel erkennen, denn es war nahezu dunkel. Er konnte die Feuchtigkeit riechen, die sich normalerweise in Kellern zwischen Steinen verkroch und jenes modrige, schimmlige Gefühl vorgaukelte, daß eine Gruft zum Ort der Alpträume und Ängste werden ließ. An keinem anderem Ort befanden sie sich, wie Guillaume flüsternd bestätigte: "Wir  sind gewissermaßen unter der Kirche... aber keine Zeit zum erörtern, Remy. Mach Platz."
Guillaume hob etwas hoch, daß Remy in der Dunkelheit sehr  ähnlich sah. Er packte automatisch mit an, und konnte erfühlen, daß es eine Puppe aus Stroh war, die mit Steinen beschwert war, sodaß sie sein eigenes Körpergewicht imitierte - und sie stank entsetzlich nach Verwesung. Remy glaubte, seinen Mentor grinsen zu hören. “Schweinegedärme. Sie werden jeden Zweifel ausräumen,” sagte er  leise.
Sie positionierten das Double im Sarg. Guillaume zauberte einen Hammer und ein Leder hervor, mit dem er den Schall der Schläge abdämpfte. Das Zunageln ging sehr schnell und leise vonstatten. Mit jeweils zwei Hieben hatte Guillaume die fingerlangen Zimmermannsnägel ins Holz getrieben.
Der Ältere hielt einen Moment inne um seine Gedanken zu sammeln. Dann redete er eindringlich auf Remy ein:
"Gut. Du hast dich also entschieden." Er seufzte. "Ich werde mich schoneinmal auf den Weg machen, alles für eure Ankunft vorzubereiten. Aber  erst einmal..."
Guillaume geleitete Remy durch den Raum, dessen Außmaße schwer abschätzbar waren. Erst hörte Remy ein klicken, dann das Drehen einer Seilwinde, worauf ein Schaben folgte - Stein auf Stein. Eine Tür schien sich zu öffnen. Ein noch modrigerer, noch schimmeligerer Geruch schlug den beiden entgegen. "So Remy, dies ist der Eingang. Folgt unablässig dem Weg, den ich euch jetzt sage, denn es ist ein einziges labyrinth dadrin. Sei vorsichtig und leise, denn die Gänge führen zwischen den Räumen hindurch und manche Dienstboten benutzen sie, doch eigentlich sollten alle schlafen. Du solltest auf an der Treppe ankommen, die zu Jonathans Gemächern führt."
Guillaume nahm Remys Unterarm, zog den Ärmel zurück und setzte den Zeigefinger an der Ellenbeuge an um seine folgenden Worte mit enstprechender Bewegung zu begleiten. Als erstes zog er einen Imaginären Strich geradeaus. Er sprach sehr langsam. Remy wußte daß Guillaume sich seine stark ausgeprägte merkfähigkeit zu Nutze machte, und wieder einmal konnte er im Stillen dem Herrn dafür danken.
"Links...
rechts...
dann kommt eine Leiter...
weiter geradeaus...
die dritte rechts...,"
er malte einen gebogenen Gang,
"Wieder rechts...
weiter geradeaus...
und dann noch einmal links. Hinter dem Gobelin, vor dem du dann stehen solltest, ist ein Durchbruch der dich zur Treppe führt."
Sein Mentor ließ ihm einen Moment, seinen Weg zu verinnerlichen.
"Dann heißt es wohl Abschied nehmen," sagte Guillaume zögerlich, "ich sehe dich wohl auf der anderen Seite wieder." Herzlich wurde er umarmt.

"Bleib wie du bist, Remy, mon vieil ami."
« Letzte Änderung: Juli 04, 2009, 16:17:39 von Wuschel » Gespeichert
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Stier


« Antworten #114 am: Juli 04, 2009, 16:05:36 »

Noch während er Guillaume half, die Strohpuppe in den Sarg zu legen, spürte Remy die Schwere und Schmerzen in seinen Gliedern schwächer werden. Auch seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und die Lebensgeister kehrten in den Körper des jungen Franzosen zurück. Aufmerksam hörte er zu, als Guillaume ihm den Weg erklärte, und als er schliesslich umarmt wurde, machte sich Beklemmung in seiner Brust breit.

"Pour toujours" war das erste, was er hervorbringen konnte, und dass ihm zunächst weitere Worte im Hals stecken blieben, lag dieses Mal nicht am Fluch des Schweigens. Lange hielt Remy die Umarmung seines Mitbruders, der zugleich auch so viel mehr geworden war in den gemeinsamen Jahren: ein Lehrer, ein Vertrauter, ein Begleiter auf der Suche nach Wissen, ein väterlicher Freund. Er hatte ihm so viel zu verdanken, nicht zuletzt dass er Jonathan begegnet war.

"Guillaume" begann Remy zögerlich, nachdem die beiden einander losgelassen hatten, "ich weiss, dass ich ohne deine Hilfe nicht bis an diesen Punkt meines Lebens gekommen wäre. Seit meinem ersten Tag in Fleury warst du für mich da, und nun bist du an meinem letzten Tag als Lebender zugegen. Ohne dich stünde ich nicht an der Schwelle zu einem neuen Teil meines Lebens. Ich kann nicht mit Worten ausdrücken, wie dankbar ich dir für alles bin, was du für mich getan hast."

Er machte eine kurze Pause. "In meiner Kammer oben im Kloster liegt ein Umschlag bei meinen Sachen. Es ist ein Brief für meine Schwester, datiert auf den Tag nach unserer Ankunft hier. Bitte nimm ihn an dich und sorge dafür, dass sie ihn erhält. Es steht nichts darin, was Anlass zur Sorge geben dürfte, aber sie ist noch jung, und vielleicht hilft der Brief ihre Trauer zu mildern. Ich denke, er wird allen in meiner Familie helfen, auch wenn er nur für Clarisse bestimmt ist."

Erneut gab es eine Pause, bevor er weitersprach. "Ich weiss, dass dir meine Entscheidung nicht zusagt, aber ich fühle, dass das, was nun vor mir liegt, mein Weg ist. Vielleicht wollte der Allmächtige es, dass ich diesen neuen Lebensweg sehe, und vielleicht wollte er, dass du mich an seinen Anfang bringst; immerhin gab er mich in deine Fürsorge. Du sagst, es ist Zeit, Abschied zu nehmen, aber du sagst auch, dass wir uns wiedersehen werden. Ich freue mich darauf, denn ich weiss, dass du weiterhin Teil meines Weges sein wirst. Wie auch immer die andere Seite sein wird, ich, Remy, verspreche dir hier und jetzt, dass ich immer dein Freund sein werde, immer ein offenes Ohr für all deine Ratschläge haben werde und in dir immer meinen geliebten Mitbruder im Namen des Herrn sehen werde."

Während der letzten Worte hatte Remy in der Dunkelheit nach Guillaumes Händen getastet und sie fest gedrückt. "Pour toujours, Frère Guillaume, auf immer und ewig." Stumm verharrte er noch einige Augenblicke.


Als Remy sich letztendlich, den Anweisungen genau folgend, in den Gang begab, der ihn zu Jonathan führen sollte, wurde es ihm mehr und mehr bewusst: der Abschied von Guillaume war auch der Abschied von der Welt des Tages gewesen, und mit jedem Schritt entfernte er sich weiter von der Welt der Lebenden. Dennoch war sein Schritt sicher und fest, denn in ihm hielt sich die Zuversicht, dass der Allmächtige ihn nicht verlassen würde. Gehaucht, noch leiser als ein Flüstern, formten seine Lippen die Worte eines Psalms, der ihm immer wieder Zuversicht gab, und den er nun vor sich hersagte, als er in die Dunkelheit schritt.

"Der Herr ist mein Licht und mein Heil; wovor sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; wovor sollte mir grauen?..."

Der beschriebene Weg führte ihn tatsächlich bis zu einem Punkt, wo ihn schwaches Licht erwartete; dies musste wohl der Gobelin sein.
Kurz darauf fand sich Remy in einem ihm bereits vertrauten Gang wieder. Nur noch wenige Meter trennten ihn von der Tür zu Jonathans Kammer. Sein Atem ging schwer, als er die letzten Schritte ging. Der Schmerz war verblasst und die Schrammen vergessen. Die Erwartung liess sein Herz schneller schlagen. Winzige Schweißtröpfchen bildeten sich auf seiner hohen Stirn. Die dünnen, fast schon spinnenhaften Finger ballten sich zu Fäusten, entkrampften sich, ballten sich erneut. Langsam hob er die Hand und dann ... war alles zu spät.

Er klopfte an.
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« Letzte Änderung: Juli 05, 2009, 01:15:14 von Aphiel » Gespeichert

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Remy le Duc (Vampir)
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« Antworten #115 am: Juli 05, 2009, 17:36:05 »

Die Tür wurde bald darauf geöffnet. Jonathan bat Remy herein.
Etwas hatte sich im seinem Raum geändert: Der Tisch war frei geräumt worden. Keine Papiere oder Bücher lagen mehr darauf, nicht einmal ein Federkiel. Dafür stand an der längsseite am Boden ein großes Gefäß, eine Tonschüssel.

"Ihr seid also gekommen...," sagte Jonathan. Es war mehr Feststellung als Erleichterung in seiner Stimme.
Er reichte Remy ein Lendentuch mit den Worten "Entkeidet euch, legt das an und legt euch auf den Tisch."
Mehr sagte er nicht. Remy konnte buchstäblich den Wissenschaftler in ihm erkennen. Er war immernoch der selbe, doch die Menschlichkeit war aus seiner Stimme gewichen. Er schien emotionalen Abstand zu Remy zu nehmen.
Letzlich stribt man immer allein - Langsam wurde dem jungen Mönch klar, was dies bedeutete.

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Der Tisch war hart. Das Laken, welches Jonathan darüber gebreitet hatte, milderte nichts ab. Dennoch fühlte er sich nach der Beichte etwas leichter.
Er lag auf dem Rücken. Die Decke des Turms - sie befanden sich tätsächlich an seiner Spitze - war ein Konstrukt aus spitz zulaufenden schmucklosen Balken. Jonathan hielt Remys Arm, der schon einen Schnitt aufwies, fest am Handgelenk. Ein Messer blitzte auf.
Präzise führte der Alte das Messer, so daß der neue Schnitt mit dem Alten ein Kreuz bildete. Die Haut klaffte auseinander, als die gespreizt wurde. Der Schmerz war nicht heftig, sondern zog sich hin, immer intensiver werdend.
Eine weiteres mal setzte Jonathan das Messer an und durchtrenne die rot pulsierende Ader.
Erst jetzt begann es zu bluten. Remy wurde losgelassen, sein Arm hing in der Luft. Jonathan schob die Tonschüssel zurecht, daß sie das Blut auffangen konnte.

Er setzte sich auf den niedrigen Hocker an Remys unverletzte Seite und wartete - während das Leben aus Remy herausströmte, wie ein Bach ins Tal.
« Letzte Änderung: Juli 05, 2009, 19:47:41 von Wuschel » Gespeichert
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Stier


« Antworten #116 am: Juli 05, 2009, 23:31:05 »

Remy tat, wie ihm gesagt wurde und wechselte seine Kleidung. Dann legte er die letzte Beichte ab und kletterte schließlich auf den harten Tisch. Es war kühl für diese Nacht im Mai, und kühler als man es von einem so sonnigen Tag erwartet hätte. Das Leinentuch um seine Hüften milderte den Zustand nur dürftig. Er fröstelte und die Gänsehaut strich über seinen ganzen Körper hinweg.

Einen Augenblick lang starrte er auf die Dachbalken über seinem Kopf, die wie Fäden eines Spinnennetzes zentral zusammenliefen. Dann spürte er wie Jonathan nach seinem Arm griff und er drehte den Kopf. Zuerst sah er nur die Klinge, dann kam der Schmerz. Jonathan tat noch etwas, das er nicht genau erkennen konnte, dem Geräusch nach bewegte er das Tongefäß, das Remy neben dem Tisch hatte stehen sehen. Dann entschwand der Alte seinem Blickfeld.

Der Schmerz wich langsam einem anderen Gefühl, etwas Warmes, das nun seinen Arm hinab rann, der leichten Kurve seiner Haut folgte und schließlich von seinen Fingerspitzen tropfte. Leise mischten sich die Geräusche mit einem hölzernen Knarren zu seiner anderen Seite. Als Remy den Kopf drehte, erkannte er, dass Jonathan sich dort hingesetzt hatte.

Was nun von ihm erwartet wurde, war dem jungen Mönch bereits seit letzter Nacht klar: er sollte nun sterben.

Remy drehte den Kopf erneut und starrte wieder an die Decke, wo das hölzerne Spinnennetz über ihm schwebte. Sein Atem war ruhig und gleichmäßig, doch mit jeder Minute verlor seine Haut mehr ihrer gesunden Farbe, wurde allmählich blasser.

'Woran denkt ein Mensch, wenn er stirbt?' dachte Remy paradoxerweise, während er sich Tropfen um Tropfen dem Ende seines Lebens näherte. 'Sollte ich jetzt an etwas Bestimmtes denken? Sollte ich auf mein Leben zurückblicken? Mich an meine Familie und Freunde erinnern? Oder vielleicht doch den Allmächtigen um Beistand und Geleit für meinen neuen Weg bitten?'

Ein wenig beklemmt merkte der Franzose, dass er erst jetzt auf diesen Gedanken kam. Daran hätte er eigentlich die ganze Zeit denken sollen. Mit einer inneren Anspannung, die wohl seiner gegenwärtigen Situation zuzuschreiben war, wollte er sein Gebet beginnen, doch da merkte er erst, wie schwer seine Zunge geworden war. Träge klebte sie in seinem Mund und ein bisher unbemerktes Durstgefühl drang in sein Bewusstsein. Aber sein Geist war noch frei und agil, und so begann er in seinen Gedanken das Gebet des Herrn zu sprechen.

'Pater noster, qui es in caelis
Sanctificetur nomen tuum
Adveniat regnum tuum...
'

Während der Lebenssaft aus ihm herausfloss, fragte er sich, was ihn nun erwartete. Was auch immer kommen würde, es war weder der Himmel, noch das Fegefeuer. Irgendwie würde Jonathan seine unsterbliche Seele daran hindern, seinen Körper zu verlassen. Wie das wohl vonstatten gehen sollte? Plötzlich ertappte sich Remy bei diesen Gedanken und stellte fest, dass er deswegen sein Gebet unterbrochen hatte.

Ein leichter, feucht glänzender Film hatte seine Stirn überzogen, und seine Blicke streiften nun ruhelos über die Dachbalken. Sein Atem ging etwas schneller, als er mit leichter Aufregung versuchte, das unterbrochene Gebet fortzusetzen. Da er aber nicht wusste, wo er es unterbrochen hatte, begann er von vorn.

'... Adveniat regnum tuum...
Fiat voluntas tua,
Sicut in caelo, et in terra...
'


Aber war dies nun wirklich Gottes Wille? Dass er hier so lag und sein Leben hingab war doch auch seine eigene Entscheidung gewesen. Und selbstsüchtig war sie obendrein.

'...Panem nostrum cotidianum da nobis hodie
Et dimitte nobis debita nostra,
Sicut et nos dimittimus debitoribus nostris...
'

Er mochte sich zwar einreden, dass er dies für die Seele von Ortrud tat und für das Heil seiner Familie, aber er musste sich gleichermaßen eingestehen, dass es nur zu verlockend war, die Geheimnisse zu erfahren, von denen Jonathan gesprochen hatte.

Sein Atem ging noch schneller und der Schweißfilm auf seiner Stirn hatte sich verstärkt. Seine ruhelosen Augen fanden erneut ihr Ziel in dem hölzernen Spinnennetz über seinem Kopf. Nur dass sich darin wohl niemand ein Opfer fangen würde. Oder … konnte es sein, dass er bereits dieses Opfer war? Und die Spinne saß nun lauernd an seiner Seite, wartend, ihre Beute in seinem Todeskampf beobachtend? Das wievielte Opfer mochte er sein? Und ob sie wohl alle so freiwillig in die Falle des Alten getappt waren wie er?

'...Et ... et ne nos in ... inducas in ten... tentationem...'

Unruhe machte sich in ihm breit, Aufregung und Anspannung. Der Schweiß auf seiner kalten Stirn sammelte sich langsam zu kleinen Tröpfchen. Seine Gedanken waren nun wie eine Art Kriegsgesang, mit dem er sein unweigerliches Ende zu bekämpfen begann. Und die aufsteigende Angst, dass dies alles lediglich eine große Lüge war, dass Jonathan ihn betrogen hatte, und dass ihn nichts erwartete, nur der dunkle Abgrund der Hölle, weil er sein von Gott geschenktes Leben weggeworfen hatte! Seine Blicke sprangen nun in einem schnellen, unregelmäßigen Muster von einer Ecke seines Gesichtsfeldes zur anderen, während sein Atem immer schneller wurde und sein Herz von innen gegen seine Rippen hämmerte. Ein kurzes Zittern durchfuhr seinen Körper, der nun zu keiner größeren Bewegung mehr in der Lage war.

'Sed lib ... libera nos a malo...'

Sein Blick suchte nach Jonathan. Nur unter Anstrengung schaffte er es noch den Kopf zu drehen. Immer häufiger schwanden ihm nun die Sinne, und Schwärze legte sich über seine Augen. Sein Atem ging immer schneller und schneller. Von seiner fahlen, kalten Stirn begannen die Schweißtropfen herunter zu rinnen. Seine ganze Haut war nun blass und klebrig vom kalten Schweiß, doch das spürte Remy ebenso wenig, wie die Kälte, die seinen Leib ergriff. Er hechelte förmlich, während die lichten Moment immer seltener der Dunkelheit wichen, die nach seinem Bewusstsein griff und ihn in die Schwärze ziehen wollte. In jenen Augenblicken sah er Jonathan, doch kaum hatte die Dunkelheit seine Sinne umfangen, sah er in kurzer Folge andere Erinnerungen, schmeckte sie, roch sie, hörte sie und spürte sie.

Jonathan.

Seine Familie. Mutter. Ihr Parfum. Vater. Seine Hände. Henri. Sein Lachen, als sie nach einem gelungenen Streich das Weite suchten. Clarisse. Ihre leuchtenden Augen zum Weihnachtstag. Großvater. Sein kratzender weißer Bart.

Jonathan.

Freunde. Guillaume. Ihre Reise. Ihre Erlebnisse. Ihr Abschied. Florent. Immer zum Lachen aufgelegt. Wissbegierig und ehrgeizig. Robert. Der neue Novize in Fleury. Und noch so jung. War er damals auch so jung?

Wieder Jonathan.

Dann tauchte Marie auf, Dorettes Tochter. Sie half ihrer Mutter, die als Angestellte auf dem Gut arbeitete. Ah, Marie. Henri und er hatten sie beim Baden beobachtet, im Sommer, bevor er nach Fleury ging. Kleine Marie, nur ein Jahr jünger als er und Henri. Sie hatte so laut geschrien, als sie die beiden Jungen damals im Schilf entdeckte. Natürlich hatten sie vorher ihre Kleider versteckt. Arme unschuldige Marie. An das warme Gefühl, das er hatte, als er ihre nackte Gestalt aus seinem Versteck heraus beobachtete, erinnerte sich Remy noch Wochen später. Irgendwann danach hatte sie die beiden Jungen aus Rache mit Eiern beworfen. Und im Winter hatte er sie im Stall wiedergesehen. Nur da hatte sie dann nicht geschrien, nicht einmal als Henri ihr das Unterkleid auszog und beide sich nackt im Heu wälzten, während er aus seinem Versteck zusah und ihm sein Herz wehtat. Ach, Marie...

Erneut Jonathan und sein uraltes Gesicht.

Als die Dunkelheit ihn dieses Mal umfing, kamen keine Stimmen, keine Gerüche, keine Töne mehr. Es war soweit, der letzte Augenblick war gekommen.

'Amen.'

Seine Gedanken flüsterten dieses letzte Wort wieder und wieder, als er doch noch einmal Jonathan sah, noch einmal Guillaumes Augen und noch einmal die Hand seines Vaters, wie sie seine kleine, kindliche Hand ergriff; wie sie alle drei doch nur eine Person waren, die ihn nun mitnahm an einen unbekannten Ort. Doch er musste keine Angst mehr haben, denn Vater/Guillaume/Jonathan war bei ihm.

"Vater, ... wohin ... führst ... du mich?"

Unter dem nun schnell hechelnden Atem und dem dröhnenden Hämmern seines Herzens bemühte sich Remy die Antwort zu hören, während sein Geist und sein Bewusstsein endgültig in die Nacht sanken.

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Remy le Duc (Vampir)
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« Antworten #117 am: Juli 06, 2009, 17:39:39 »

"Ich bringe dich auf den Weg der Erkenntnis, mein Sohn,"
hörte er noch schwach die Stimme Jonathans, ehe seine Sinne schwanden.
Dies waren die letzen Worte, die der lebende Remy vernahm. Sein Herz war bereits verstummt.

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Remy le Duc war hinüber gedämmert.
Er starb in der Nacht zum 10. Mai anno domini.
Durch einen kreuzförmigen Schnitt gab er sein Blut und sein Leben.

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Remys Körper löse sich auf. Kein Gefühl, kein Schmerz, er war einfach fort.
Er hatte keine Augen um zu sehen, und doch nahm er wahr.
Er durchschritt eine Grenze, verlies die Welt der Lebenden.
Ein schwarzer Schleier legte sich über ihn. Die Schwärze war jedoch nicht tot. Sie waberte, bewegte sich.
Es war kein Ort, vielmehr ein Land. Ein Land aus Schwärze. Stürme peitschten darüber hinweg.
Er nahm wahr, das in der Ferne lag eine Stadt lag, die bewohnt war.
Er fühlte sich eher wie ein Reisender, der auf eine Kutsche wartet, die ihn ans Ziel bringt.
Je länger er blieb, je mehr sehnte er die Kutsche herbei, denn hier gehörte er nicht hin.
Es war lediglich ein Zwischenhalt für ihn bestimmt.

Etwas Wildes sprang ihn an, hielt ihn eisern fest und zerrte.
Es zerrte ihn zurück, zurück dorthin von wo er gekommen war.
Es nistete sich in seinem Herzen ein, dort wo man Schmerz fühlt, wenn das Herz leidet.
Ein nie gekanntes Wollen, ein verlangen brachte es mit sich, das zu einem Teil von ihm wurde, seine Seele befleckte.
Dann begann das Brennen.
Er brannte wie ein Stern, wie die Sonne.
Das Leben presste sich mit aller Gewalt in ihn zurück.
Sein Körper legte sich wieder um die tobenden Gewalten seiner Seele und gab ihr einen Halt.
Er wollte mehr davon. Mehr Leben.
In ihm tobte es weiter.
Er konnte das Brennen, das durch seinen ganzen Körper floß, nicht mehr ertragen.
Ein roter Schleier legte sich über ihn.
Kein Platz, keine Chance zu entkommen.

Remy schrie.
Keine Kontrolle.
Er brauchte es, das Leben.
Er hatte nicht genug davon.
Er wußte sein Körper würde alles tun, es zu bekommen.
Das Wilde Tier in ihm würde es tun.

Remy tobte.


Endlos dauerte die Zeit, in der er rasend war. Die Wut betäubte alles andere.
Etwas tropfte auf sein Gesicht. Er schmeckte etwas Süßes. Das Leben. Gierig trank er. Je mehr davon in seine Körper gelangte, desto lebendiger fühlte er sich. Er wurde wieder Remy. Gierig leckte er die letzten Tropfen von seinen Lippen, als der süße Strom versiegt war. Die Wildheit schwieg still und zog sich in eine dunkle Ecke zurück. Wartend.

Remy war allein. Er lag auf dem Rücken. Kein Licht drang zu ihm durch. Er konnte rings um sich nahe Wände ertasten. Sie betanden aus glattem Stein. Der Raum in dem er sich befand, war kaum größer als er selbst, Quaderförmig.
Sein Herz tat keine Schläge. Seine Lungen füllten sich nicht.
Er war eine Leiche im Sarkopharg.
« Letzte Änderung: Juli 07, 2009, 15:00:59 von Wuschel » Gespeichert
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« Antworten #118 am: Juli 06, 2009, 19:47:20 »

Der Sturz in die ewige Nacht schien endlos, und selbst als er wieder Ruhe fand, war die Dunkelheit noch immer mit ihm. Und er war nicht allein. Zunächst bewegte sich Remy nicht, sondern versuchte all seine Erlebnisse zu erfassen und zu verstehen, von dem Augenblick da Jonathans Stimme ihm ein Versprechen gegeben hatte bis ins Hier und Jetzt. Es war so vieles, und er musste diesen verdrehten Erinnerungen erst einen Sinn geben.

Lange lag er so da und versuchte zu begreifen, was er gesehen und gespürt hatte. Er hatte gemerkt, dass da nun etwas anderes in ihm wohnte, seinen Leib mit seiner Seele teilte. Und so unangenehm diese Erkenntnis auch für ihn war, sie wurde noch durch die weitere Erkenntnis überschattet, dass dieses andere Wesen kein Fremder war. Das wilde Begehren, die Wut und die Gier waren ihm vertraut gewesen. Sehr vertraut. Doch was genau war das? Er würde wohl Jonathan danach fragen müssen.

Mit einem Seufzer, für den er das erste Mal in dieser Gestalt bewusst Luft holen musste, erkannte der nunmehr tote Mönch, dass nur Jonathan ihm dabei helfen konnte, all diesen Erfahrungen einen Sinn zu entringen. Aber bevor er ihn fragen konnte, würde er ihn erst einmal finden müssen. Und das bedeutete, er musste aus dieser Steinkiste hinauskommen.

Zwangsweise blind begann Remy mit seinen dünnen Fingern die Ecken und Kanten seines kalten Gefängnisses zu untersuchen. Irgendwo würde es eine Kante geben, und das würde ihm verraten, wo der Deckel dieses Behälters war, in dem er lag. Da! Jetzt musste er ihn nur noch wegbewegen.

Er legte seine Hände gegen die steinerne Deckplatte über sich und drückte. Ergebnislos. Dann versuchte er beim wiederholten Hochdrücken die Platte gleichzeitig in eine Richtung zu bewegen, doch auch das scheiterte. Remy musste einsehen, dass er dazu nicht stark genug war. Er würde Hilfe benötigen. Vielleicht stand Jonathan ganz in der Nähe des Sargs, oder vielleicht auch Guillaume. Der hatte ja schon am Abhang unheimliche Stärke bewiesen. Und er hatte gesagt, dass sie sich wiedersehen würden.

Zu rufen oder gegen die Steinwände zu schlagen würde wenig bringen, wenn da niemand war, der ihn hören konnte. Deshalb beschloss Remy zunächst zu lauschen, ob er irgendein Geräusch außerhalb der steinernen Kiste wahrnehmen konnte. Dabei selbst leise zu sein fiel ihm nicht schwer, wie er feststellte, denn weder Herzschlag noch Atmung konnten im noch länger seine Sinne trüben. Schliesslich war er nun selbst ein wandelnder Toter.
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« Antworten #119 am: Juli 07, 2009, 22:56:59 »

Zuerst hörte er nichts.
Nie hatte er eine so vollkommene Stille erlebt, nicht einmal in seinen Gebeten.
Sie hüllte ihn ein, machte ihn beinahe schwerelos.
Dann... hörte er etwas:
"Öffne deinen Geist," hörte er dumpf.
Er kannte die Stimme. Sie hatte ihn ins Dunkel begleitet. Jonathan... er hatte ihn nicht verlassen.

Öffne deinen Geist...

Plötzlich strömten unbekannte Sinneseindrücke auf ihn ein.
Ein unheimlich intensiver Geruch von Tod strömte in seine Nase. Er wurde ihn nicht mehr los, denn die wenige Luft in seinem steinernen Grab tauschte sich nicht aus.
Ein Geschmack von Blut, eisern und süß zugleich füllte seinen Mund aus. Er konnte sogar das vergehen in dem Geronnenem auf seinen Lippen schmecken.
Die absolute unbeweglichkeit der Luft viel ihm noch einmal auf, als seine Nase unwillkürlich den Geruch einsog. Der sonst kaum spürbare Luftzug strich über seinen Körper wie eine starke Brise. Er erfühlte die beschaffenheit des Steins, die Rillen die die Werkzeuge der Menschen darauf hinterlassen hatten. Remy spürte sogar Vibrationen des Turm.
Zusammen mit seinem Gehör ergab sie einen Sinn. Er hörte trappeln von kleinen Tieren, Mäusen, ihr leises Gequieke. Das lenkte ihn fast von den näheren Geräuschen ab.
Jonathan mußte auf seinem Gefängnis sitzen, denn er spürte, sah förmlich vor sich, wie Jonathan sanft über den Rand des Deckels strich.
Sogar seine Augen erspähten etwas. Es war eine kleine Öffnung kleiner als der Durchmesser seines Zeigefingers genau über seinem Gesicht. Es viel kein Licht herein, und doch sah er es.
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