medusas child
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« Antworten #52 am: Juli 24, 2008, 23:40:16 » |
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Der watteartige Zustand der Maries Sinne gefangen nahm, hielt noch so lange an, bis die Tür hinter Vesna ins Schloss fiel und Marie das Klimpern der kleinen Kette hörte, die in der Messingschiene am Türrahmen einhakte. Marie hätte wirklich nicht mehr sagen können, was in der Zwischenzeit passierte, was Vesna gesagt und wie sie selbst darauf reagiert hat... alles war weg. Weit weg in einem fernen Traum am Ende der Zeit.
...
Das helle Geräusch der dünnen Metallkette weckt Marie aus ihrem hypnotisierten Zustand. Zu Begreifen, wozu sie ihr Einverständnis gegeben hat, lässt ihr Herz erneut in spastischen Zuckungen einen wilden Veitstanz aufführen. Nach Luft schnappend spürt sie, wie die Kälte der Angst langsam an ihren Gliedern entlang kriecht. Und als die Panik vor dem nächsten Abend ihr den finalen Schauer über den Rücken jagt und sie das Zittern ihrer Hände erblickt, rennt sie los. Ein kurzer Sprint, wenige Meter, einige Schritte. Nur ins Bett. Mehr nicht.
Die Bettdecke sinkt über ihrem Kopf hinab, als sie die Arme um die Knie schlingt und nur ein einziger Satz formt sich immer wieder und wieder stumm in ihren Gedanken: Ich will nach hause... ... ...ich will nach hause... ...ich will NACH HAUSE. Regungslos liegt sie dort. Darauf bedacht, sich nicht zu rühren, keinen Laut von sich zu geben, sich nicht zu verraten. Ein kleines Häufchen im dunklen Zimmer unter der dunklen Bettdecke. Langsam beruhigt sich der Herzschlag wieder. Ihre Atmung wird immer ruhiger... Ihr ist speiübel!
...ich will nach hause...
Sie traut sich nicht aufzustehen. Das Ziel heißt: nicht bewegen. Bloß kein Lebenszeichen von sich geben. Am besten gar nicht mehr zu dieser Welt gehören. Sich einfach abnabeln und nicht mehr da sein.
...ich will nach hause...
Unter der Bettdecke wird es warm. Die Luft ist stickig. Zuwenig Sauerstoff. Und das Atmen wird schwerer. Es verlangt nun einen Teil ihrer Aufmerksamkeit. Die Konzentration auf das leise Säuseln ihres Atems, schiebt das ewige Mantra des kleinen Kindes in ihr in den Hintergrund: ...ich will nach hause... ... ...aber wo ist NACH HAUSE überhaupt?
Marie beginnt zu schluchzen. Laut und ungehemmt. Mit offenem Mund und zusammengekniffenen Augen bricht es wie eine tosende Sturmflut aus ihr heraus. Und die Tränen fließen ihre Wangen hinab, um trommelnd auf dem Bettlaken zu zerplatzen.
Irgendwann – nach vielen Tränen – holt die Erschöpfung des heißen Tages sie ein und die geschwollenen und schweren Lider fallen zu, ohne dass sie sich dagegen wehren könnte. Doch, wozu wehren? Im Schlaf ist alles wieder gut.
[Am nächsten Morgen]
Als Marie langsam wach wird, stellt sie fest, dass ihre Augen noch immer geschwollen und schwer sind. Sie will sich gar nicht aus dem Bett quälen. Erst nach einer Ewigkeit, als es unter der Decke zu warm wird, schält sich das viel zu warme, klebrige Teil von sich herunter. Die gleißenden Strahlen der Sonne, die durch das Fenster in den Raum fallen, stechen in ihren Augen.
Ganz langsam regt sie sich. Was ein Abend! ... Was eine verdammte Scheiße! Worauf habe ich mich da eingelassen?
Marie setzt sich auf die Bettkante und reibt sich die Augen. Jetzt brennen sie noch mehr. Mit zugekniffenen Augen steht sie auf und tastet sich ins Badezimmer, dreht den Hahn am Waschbecken auf und klatscht sich einige Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Dann öffnet sie wieder die Augen. Es brennt nicht mehr so stark.
Träge entledigt sie sich ihrer Kleidung und steigt in die Dusche. Die Ringe des Duschvorhangs klappern laut und unrhythmisch, als sie diesen hinter sich zuzieht. Heißes Wasser. Nein, doch lieber etwas kälter. Die hoch am Himmel stehende Mittagssonne hatte ihr Appartement schon zu genüge aufgeheizt. Da ist eine heiße Dusche ganz eindeutig der letzte Wunsch auf ihrer langen Wunschliste. Ganz oben stand: Dieser Abend soll so schnell wie möglich vorüber gehen. ...Nein! Noch viel besser: Heute nachmittag soll die Welt untergehen und ich mit ihr!
Nach einer ausgiebigen Dusche beginnt Marie mit dem Unausweichlichen. Sie dreht ihre langen roten Haare Strähne für Strähne auf große Wickler auf. Wie ich das hasse! Und wofür das Ganze? Irgendwann in den vergangenen Minuten hatte sie resigniert und die Gegenwehr aufgegeben.
Nur mit einem flauschigen Morgenmantel bekleidet und mit einem großen Pott Kaffee vor sich, beginnt sie wenige Minuten später ihr Tagwerk. Das nächste Kapitel des James-Stuart-Manuskripts zu korrigieren, war eigentlich ein Kinderspiel. Reine Routinearbeit. Da fehlt ein Komma... Den Namen schreibt man groß... mit r... da fehlt ein Punkt... ohne e.. Und wie im Flug verstreichen die nächsten Stunden, ohne dass Marie auch nur einen großartigen, echten Gedanken fasst.
Irgendwann bemerkt sie den Schatten, der langsam von ihrer Schreibtischkante an, über den Stiftebecher kriecht, über die alte Schreibmaschine – eine IBM 72, die jedes Mal, wenn man sie anwarf, Geräusche von sich gab, als würde zum Jüngsten Gericht geblasen – und über den kleinen Wecker... Urplötzlich, wie eine Ohrfeige, reißt es sie aus ihrer Arbeitsroutine: Es ist 17.15 Uhr.
Verdammt!
Sie weiß zwar nicht mehr, was Vesna gesagt hatte, wann sie sie abholen würde... Aber ewig hatte sie nicht mehr Zeit. Und sie hatte noch nicht einmal geschaut, was sie anziehen wollte. Hurtig springt sie von ihrem Stuhl auf, wobei das Lösen ihrer nackten Oberschenkelhaut vom Leder ein wirklich widerliches Geräusch erzeugt. Ein Blick durch den Raum. Der Kleiderschrank! Zwei Schritte. Tür auf.
Das Schwarze? Das Rote? Hmmm?...
Marie zieht einen Kleiderbügel, an dem ein kurzes schwarzes Kleid mit dünnen Trägern hängt. Klassisch. Marie gefällt der Gedanke, in diesem schlichten Klischee des Kleinen Schwarzen aufzutauchen. Sie dreht sich um, um den großen Spiegel im Blick zu haben und hält das Kleid an. Damit sehe ich aus wie eine Wasserleiche! Das Kleine Schwarze fliegt in hohem Bogen auf das Bett.
Marie klaubt den Kleiderbügel aus dem Schrank, an dem ein langes rotes Kleid aus fließender Seide hängt. Das wäre sicherlich auch keine schlechte Alternative. Sie hatte es einst für ein Rendevouz erstanden... zu dem sie dann doch nicht erschienen ist. Aber in dieses Kleid hatte sie sich vom ersten Augenblick verliebt, als sie es in dem großen Second-Hand-Laden an der 43th Street an der Stange hängen sah. Wirklich traumhaft... aber ob ich da noch reinpasse? Es war von Anfang an etwas eng.
Marie streift den Morgenmantel ab und steigt in das Kleid hinein. Voller Zuversicht stellt sie fest, dass es ganz leicht über ihre Hüften gleitet. Mit einiger Anstrengung schafft sie es auch endlich beim dritten Anlauf, den Reißverschluss am Rücken hochzuziehen. Ein Blick in den Spiegel und Oh Gott! Das ist ja viel zu weit! Schlagartig wird ihr bewusst, wie viel sie in den letzten Monaten abgenommen haben musste, seit sie aus Atlanta weggezogen war. Auch wenn sie schon immer ein Einzelgänger gewesen war, die wenigen Freunde, die sie dort hatte, hatten ihr immer Halt gegeben. Doch nun... Vielleicht hat Vesna recht. Es scheint mir wirklich nicht gut zu gehen.
Der Gedanke wird nach hinten geschoben. Jetzt bleibt nur noch eines. Wenn das nicht passt, dann... dann... ...dann mache ich heute Abend einfach die Tür nicht auf! Und Marie ist überzeugt, dass es nicht passen wird. Das letzte Kleid in ihrem Kleiderschrank ist das Kleid, dass sie zu ihrem High-School-Abschlussball getragen hat. Das war nun immerhin eine Ewigkeit her.
Sie kramt zwischen ihren Winterjacken und zieht aus dem letzten Winkel, aus dem dunkelsten Eck ein helles, apricotfarbenes Abendkleid heraus. Der weiche, leichte Stoff raschelt unter ihren Fingern. Eine dünne Lage feinsten Chiffons mit dezentem Blumenmuster schmiegt sich an das Unterkleid und die luftigen Träger flattern hinter dem Kleiderbügel herab. Ich bin mir sicher, da waren mittlerweile die Motten dran, denkt Marie, sich selbstsicher an diesen letzten Hoffnungsschimmer klammernd, der sie davor bewahren könnte, heute Abend auf diese widerliche Gala zu gehen.
Fast schon lustlos steigt sie in das dünne Kleidchen. Ich sollte es auf alle Fälle flicken. Das gibt ein wunderbares Sommerkleid ab, unglaublich angenehm bei diesem heißen Wetter. Ziemlich achtlos streift sie die Träger über. Kein Reißverschluss. Wieder der Blick in den Spiegel. Das passt! Halb erstaunt, halb erschrocken muss Marie feststellen, dass das Kleid sitzt wie angegossen. Der weiche Stoff umspielt ihre schmalen Hüften und der zarte Chiffon flattert im Zug des kleinen Ventilators auf ihrem Schreibtisch.
Hektisch streift sie das Kleid wieder ab und setzt sich auf die Bettkante, um den Stoff auf Löcher oder Macken zu untersuchen. Doch so viel und so oft sie auch jeden Zentimeter Stoff, jede Naht absucht... das Kleid scheint in tadellosem Zustand. Maries Herz beginnt wieder zu pochen. Erneut steht sie auf. Erneut zieht sie das Kleid an. Noch ein Blick in den Spiegel.
So schlimm sieht es gar nicht aus.
Als sie es damals zum Abschlussball getragen hatte, kam es ihr scheußlich vor. Sie hatte sich so geschämt, dass sie den ganzen Abend in der dunklen Ecke neben der Bühne gestanden hatte – dort, wo kein Licht hinfiel und wo keiner der bunten Scheinwerfer sie erfassen konnte – und darauf gehofft hatte, dass der Abend schnell vorbeigeht. Aber er hat schier eine Ewigkeit gedauert.
Jetzt im warmen Licht der langsam nach unten sinkenden Sonne gefällt ihr das Kleid. Wirklich schön. Sie dreht sich ein wenig nach links. Dann ein wenig nach rechts. Ein Lächeln formt sich auf ihren Lippen. ...Sie ist für einen kurzen Moment fast bereit zu denken, dass sie sich gefällt. Doch dieser Gedanke wandert noch vor seiner Geburt auf den Friedhof, auf dem so viele schöne, ungedachte Gedanken ein lautloses Ende gefunden hatten.
Barfuß und in gewohnter Weise leise, fast lautlos, geht sie in ihr Badezimmer. Im grellen Neonlicht der Lampe über dem Spiegel gefällt sie sich überhaupt nicht mehr. Die Wickler aus den Haaren gedreht, wird die Haarspraydose gezückt. Ein Griff in die mittlere Schublade des kleinen Unterschranks unter dem Waschbecken und sie hat ihren Kulturbeutel mit den Schminksachen gefunden. Oh je! Ich habe mich so lange nicht mehr geschminkt, denkt sie. Und ein kleiner gehässiger Folgegedanke erwidert: Du hattest ja auch keinen Grund dazu.
Abdeckstift, Make-up, Puder und noch einmal Puder... und schon ist nichts mehr von ihren Sommersprossen zu sehen. Wirklich bewusst, dass sie auch so fast nicht zu sehen wären, ist sie sich nicht... Lippenstift. Rouge. Lidschatten. Kajal... Marie zittert wieder vor Anspannung. Noch immer ist ihr der Gedanke zuwider, heute Abend unter Menschen zu gehen. Überhaupt heute Abend aus dem Haus zu gehen! ...Eyeliner. Verrutscht!
Wütend dreht Marie den Wasserhahn auf. Wozu das alles eigentlich? Warum soll ich mich zurecht machen? Ich will da doch nicht hin! Ich will da niemanden sehen! Und Marie wäscht alle Farbe wieder ab.
Der nächste Versuch: Ein wenig Puder, ein wenig Wimperntusche, etwas Lidschatten. Fertig! ...Ist mir doch egal, was die sagen!, denkt sie vor sich hin, obwohl das Gegenteil wohl eher der Wahrheit entsprechen würde.
Zum Schluss sucht Marie noch passende Schuhe zusammen. Und dann stellt sie fest, dass sie scheinbar so hektisch zu Werke gegangen ist, dass sie nun nicht mehr weiß, was es noch zu tun gibt. ...Sie macht sich einen Kaffee.
Es ist noch immer Zeit. Sie geht zurück ins Badezimmer und kramt aus dem Spiegelschrank ein Kästchen mit Haarnadeln. Ihre Hände zittern noch immer und als sie fertig ist, hängen noch immer einige Strähnen ihres nun welligen Haares im Nacken lose herab. Ganz zu schweigen von dem Verlust einer Nadel, die ihr während ihren Bemühungen aus den Fingern geglitten ist, im Waschbecken herunter gekullert ist und im Abfluss verschwand, bevor Marie sie wieder einfangen konnte.
Und jetzt ist immer noch Zeit. Marie sitzt auf dem Bett und starrt nervös Löcher in die Luft. Sie wünscht sich so sehr, dass Vesna sie versetzt. So sehr, dass Vesna ihr Interesse nur geheuchelt hat. Dass Vesna sie von vorne bis hinten belogen hat. Dann wäre alles so einfach! ...und dass Vesna einfach nicht auftaucht.
Es ist halb acht, als sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzt und ihr Manuskript aus der Schublade holt. Viel zu lang hat sie nicht mehr daran gearbeitet. Aber in der letzten Zeit will es einfach nicht mehr. Dabei ist es ihr doch so wichtig.
Seit Tagen hat sie kein einziges Wort mehr darunter geschrieben.
Vielleicht einfach mal dieses eine Blatt weglegen. Ich kann es wahrscheinlich einfach nicht mehr sehen, denkt sie hoffnungsvoll.
Sie wirft die Schreibmaschine an. Ein dröhnendes Brummen erfüllt den Raum. Und nun noch einen neuen Bogen weißen Schreibmaschinenpapiers eingespannt. Jetzt kann es losgehen!
Doch sie sitzt da. Und kein einziges Wort findet den Weg aus ihrem Kopf über die Tasten auf das Blatt. Die Haarnadeln pieken entsetzlich und ihr ist so verdammt warm. Warum kann der Hausmeister nicht ein einziges Mal seinen Job machen und die Klimaanlage endlich reparieren?
...
Viel Zeit vergeht, bis es dann doch noch an der Tür klingelt. Ein schlichtes NEIN! schießt Marie durch den Kopf...
...und dann ist die Watte wieder da. Nur diesmal fühlt sie sich zäh und klebrig an, wie ein warm gewordener Marshmallow. Ein rosa Marshmallow.
...
Das Letzte, an das sich Marie erinnern kann ist, dass sie zögernd und ängstlich im Flur stand und das kleine Knöpfchen angestarrt hat, das unten im Hausflur die Tür öffnet.
Nun hört sie Motorengeräusch...
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