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Autor Thema: [Background] Wege zur Erkenntnis, Wege zur Erlösung  (Gelesen 85949 mal)
Beschreibung: Remy le Duc: Charakterbogen, Präludium und Tagebuch
Aphiel
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Stier


« Antworten #90 am: Mai 14, 2009, 19:27:35 »

Remy hörte zu, und mit jedem Satz Jonathans fühlte er etwas in sich ein Stück mehr zerbrechen. Es war nicht wie das Zerbrechen eines Tonkrugs, der nur Scherben hinterließ, nein, es war mehr, als bräche etwas frei, so wie ein Vogeljunges sich aus seinem Ei befreit. Jedes Wort des alten Bibliothekars legte mehr Wahrheit frei, als Remy sich in all der Zeit selbst hatte zugestehen wollen. Und ohne die von ihm aufgebaute Hülle seiner selbsterdachten frommen Erklärung, an die er so viele Jahre so fest geglaubt hatte, taten sich ihm Erinnerungen auf, die er ignoriert hatte, da sie nicht in seine Erklärung passten. Sie legten die Frage frei, auf die Jonathan angespielt hatte: war die weiße Besucherin wirklich ein Engel?

Mit den neuen Informationen von Jonathan und den ersten Erinnerungen an die weiße Frau, musste Remy sich eingestehen, dass die Antwort darauf 'nein' war. Ein Engel des Allmächtigen, ein Bote für ihn allein ... nur zu gern hatte er daran glauben wollen, hatte es ihn doch besonders gemacht. Doch Jonathans Erklärungen legten eine andere Wahrheit nahe, und er konnte gewisse Dinge nicht länger abstreiten, wie die gelegentliche Gänsehaut, die ihm bei der Erscheinung der weißen Frau überkam, oder wie er diese Gänsehaut bei den Schauergeschichten der Angestellten wieder gefühlt hatte und er sich so der Erscheinung näher fühlte. Oder wie sie ihm bedeutet hatte, ihr zu folgen, mitten in der Nacht bis zwischen die Gräber des Gottesackers. Und letztendlich musste Remy sich auch eingestehen, dass ein Engel des Herrn nicht in seiner Reinheit korrumpiert worden wäre. Und wäre er ein Gefallener gewesen, so hätte er sich nie in solcher Reinheit zeigen können. Nein, die einzige Schlussfolgerung blieb, dass die Erscheinung kein Engel gewesen war. Jonathans Erklärung eines Todesalben, einer verschmähten Seele, erschien angesichts der unwiderlegbaren Fakten weitaus einleuchtender.

Erstaunt musste Remy aber auch zugeben, dass diese Erkenntnis seinen Glauben nicht schmälerte. Zugegeben, er hatte einen Teil des Rätsels falsch eingeordnet, doch änderte das nichts daran, dass er eine überirdische Präsenz verspürt hatte, die nur göttlich sein konnte. Der Herr hatte ganz sicher einen Plan für ihn, und die weiße Frau musste irgendwie dafür von Bedeutung sein. Hatte Jonathan nicht selbst gesagt, dass den Seelen der Menschen manchmal der Eintritt ins Paradies aus einem Grund verweigert blieb? Was nun, wenn auch die weiße Frau Teil des Planes war?


Remy beschloss, Jonathan die Wahrheit zu erzählen.
"Ich kann das nicht leugnen, es gibt da tatsächlich etwas. Ich habe dies nie jemandem anvertraut, nicht einmal Guillaume; doch ich habe das Gefühl, ihr würdet es verstehen. Ich ... nunja, ich denke, ich sehe ... etwas ... das nicht in diese Welt gehört. Ich weiss nicht, wie ich es anders erklären kann. Es ist immer dieselbe Erscheinung, eine Frau, ganz in weiss, und sie erscheint nur mir. Nicht einmal mein Bruder konnte sie sehen und wir waren als Kinder ständig zusammen. Sie kommt schon seit vielen Jahren immer wieder zu mir, schon mein halbes Leben begleitet sie mich. Sie führte mich eines nachts sogar bis auf den Gottesacker nahe unseres Hofes, doch ich weiss nicht, wieso. Und wenn sie verschwindet, dann kann ich nicht sprechen."

Er machte eine kurze Pause, in der er die ausgezehrte Gestalt des Alten bemerkte, doch ging zu viel in seinem Kopf umher, um länger über dessen Erscheinung zu grübeln. Stattdessen erklärte er weiter.
"Ich hielt sie bislang für eine Abgesandte des Allmächtigen, einen Engel. Aber eure Erklärungen legen eine andere Schlussfolgerung nahe: dass sie vielleicht einer dieser Todesalben, eine verlorene Seele sein könnte, jemand, der noch nicht ins Paradies durfte. Ich weiss lediglich, dass sie immer wieder zu mir kommt und ich kann nicht anders als darauf zu vertrauen, dass dies Gottes Wille ist. Ich habe sie früher schon oft gefragt, was sie von mir will, doch nur wenn wir allein waren. Aber sie scheint mich nicht zu verstehen, darum weiss ich keine Antwort. Und ich glaube, der Herr lähmt meine Zunge nach ihren erfolglosen Besuchen, auf dass ich zunächst lerne ihr zuzuhören."

Remys Blick richtete sich nun fest in die Augen des Alten und seine Stimme zitterte nicht, als er furchtlos und mit fester Stimme sprach, ja schon fast verlangte. "Bruder Jonathan, ich bin kein Dummkopf, ich bin kein Lügner oder Wahnsinniger und ganz gewiss bin ich kein Ketzer. Doch weiss ich, was ich gesehen und erlebt habe, und mir bleibt nur das Vertrauen in den Allmächtigen, dass dies Teil seines Plans für mich ist, und nicht die Pläne anderer Mächte. Ich kann erkennen, dass ihr sehr viel Wissen habt und sehr wahrscheinlich auch einiges darüber, was genau mir erschien. Ich bitte euch, wenn ihr mir etwas über die Erscheinung sagen könnt oder über den Grund, warum sie nur mir erscheint, dann müsst ihr es mir sagen! Ihr spracht von einer Wissenschaft, also lehrt sie mich! Erleuchtet meinen Geist oder gebt mir die Möglichkeit, dieses Wissen selbst zu erlangen! In irgendeinem Buch müssen doch die Antworten stehen! Ich glaube daran, dass mein gottgewolltes Schicksal davon abhängt, dass ich hinter dieses Geheimnis komme."

Hätte der jüngere der beiden Mönche sich seine Worte vorher überlegen können, hätte er sich gewiss anders ausgedrückt; doch nun war all das einfach so aus ihm herausgebrochen. Im Nachhinein betrachtet hätte er sich dafür schelten können, denn er klang wirklich ein wenig wie ein Besessener, so fordernd wie er zum älteren gesprochen hatte. Aber die Worte waren nun einmal gesagt und konnten nicht mehr ungesprochen gemacht werden. Und doch musste er zugeben, wie gut es tat, sich endlich einem anderen Menschen anvertrauen zu können, der ihn diesbezüglich verstand. So ergänzte er lediglich: "Sie erschien mir zuletzt bei der Kutsche des unnatürlichen Reisenden, und da verstand ich ihre Worte, zum ersten Mal. Aber dann wurde ihre Erscheinung von etwas ... Dunklem und Bösartigen verschlungen, von innen heraus verdorben ... darum fragte ich euch auch, was einen Engel töten kann."

Nun war es an Jonathan zu antworten, und der Blick des Franzosen klebte förmlich an dessen Lippen, um ja kein Wort zu verpassen. Die Antworten schienen ihm in diesem Augenblick so greifbar und nah wie nie zuvor.
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« Letzte Änderung: Mai 14, 2009, 23:14:30 von Aphiel » Gespeichert

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« Antworten #91 am: Juni 01, 2009, 23:12:23 »

Bruder Jonathan nickte verständnisvoll und dachte einem Moment nach.
Remy sah förmlich, wie der Alte geistig seine Antwort entschachtelte, sie ihm so zu präsäntieren, daß es nicht zu fremdartig oder phantastisch Klang.
"Ein Todesalb ist körperlich in einer Zwischenwelt gefangen. Ohne das Urteil Gottes kann er sie nicht verlassen. Das zerreißt seine Seele. Ein Teil will in dieser Wellt verweilen, der andere die Erlösung, seine Aufgabe zuende führen. Sie haben zwei Gesichter. Möglicherweise seid ihr Zeuge einer..."
Jonathan hielt inne.
Er schloß einen Moment die Augen, und fuhr dann unvermittelt fort: "Ich glaube, die weiße Frau, la femme blanche, wie ihr sie nennt, ist eure ständige Begleiterin. Ein Freund hat mich etwas gelehrt. Ich dachte nicht daß ich es einmal durchführen würde...," murmelte er vor sich hin, und begann, sein Zimmer auf den Kopf zu stellen. Er wühlte in den vollgestopften Regalen und förderte eine Schriftrolle zutage.
"Hier. Lest vor."

Remy nahm das Papier entgegen,entrollte es und fand eine Auflistung von verschiedenen Dingen:
"Kohle," hörte er sich sagen.
Jonathan griff in seine Rocktasche und förderte ein kleines Stück zutage. Undgeduldig schob er einige Gegenstände in der Mitte -mitsamt Remy- beiseite um Platz auf dem Boden zu schaffen. Dann zeichnete er einen einen Schritt im Durmesser messenden Kreis.
"Messingschale."
Vom Tisch nahm er eine Schale, in der er zuvor schon Räucherwerk abgebrannt hatte, und stellte sie in die Mitte des Keises. Die Kohle darin glühte sogar noch leicht.
Wie unter einemk seltsamen Zwang drang das nächste Wort über seine Lippen, obwohl das ganze doch eher an ein Hexenritual aus grauer Vorzeit erinnerte: "Weihrauch."
Der Alte Griff zu einem Beutel, und schüttete viel davon auf die Kohle. Sofort quoll gespenstisch weißer, süßlicher Rauch aus dem Gefäß.Es begann schnell, den Raum auszufüllen.
"Etwas persönliches des Verstorbenen," presste Remy hervor. Es war das letzte, was auf dem Papier stand. Nichts deutete auf den Zeck hin, kein Datum, keine Über- oder Unterschrift.
"Hm... ,"Jonathan mußte trotz des beißenden Qualms nicht husten," das Persönlichste, das wir von ihr haben, seid wohl ihr... Eine Haarsträhne oder Blutstropfen durfte genügen... " Er reichte Remy ein kleines Messer.
"Wie weit wollt ihr gehen? Ich versichere euch, nichts was wir hier tun, wird eurem oder meinem Ansehen vor den Augen des Herrn schaden," versprach er mit ernstem Blick.
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« Antworten #92 am: Juni 02, 2009, 12:36:56 »

Schon während der Vorbereitungen überlegte Remy, wozu sie dienen mochten. Es dämmerte ihm, dass es darum ging, eine Verbindung zu der Erscheinung aufzubauen. Konnte es denn wirklich so einfach sein? Und woher hatte Jonathan dieses Wissen? Was für ein Freund mochte ihn dies gelehrt haben. Und kannte er noch mehr solcher Geheimnisse?

Und dann hielt er das kleine Messer plötzlich in seiner Hand. 'Wie weit wollt ihr gehen?' hörte er Jonathan fragen und in der Tat zögerte er einen Moment, um darüber nachzudenken. Die Antworten konnten ihm gehören, in nur wenigen Augenblicken konnte er das wohl größte Geheimnis seines Lebens lüften, und alles was dafür gebraucht wurde war etwas Haar oder ein wenig Blut.

Sein Haar war frisch geschoren, die Tonsur makellos und der Schädel blank und kahl. Er würde Jonathans Hilfe benötigen, wenn er Haar geben wollte. Doch was war die Alternative noch gleich? Blut? War nicht das Blut Jesu Christi die Erlösung der sündigen Menschheit? Remy würde es nie wagen sich mit dem Lamm Gottes gleichzustellen, doch wenn Blut die Erlösung sein konnte... war nun vielleicht sein Blut der Schlüssel zur Erlösung dieser gemarterten Seele. Konnte es so sein? Hatte sie ihn all die Jahre um Erlösung gebeten, und alles was dazu nötig war, war ein wenig Blut?

"So sei es."

Er setzte das Messer mit der Spitze auf der Innenseite seines linken Unterarms an, nachdem er den Ärmel hochgeschoben hatte. Etwa eine halbe Handbreit unter dem Ellbogengelenk schnitt er entschlossen in das weiche Fleisch, nicht tief, aber doch tief genug, dass dunkles Blut aus dem zwei Finger breiten Schnitt hervorquoll. Er legte das Messer achtlos beiseite und umklammerte mit der Rechten seinen linken Arm.

"Wohin nun? In die Schale?" Fragend sah der junge zum alten Mönch hinüber.
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« Antworten #93 am: Juni 04, 2009, 21:45:42 »

Remy konnte das nicken Jonathans durch den Nebel, den die schwelenden Harzstücke erzeugten, kaum erkennen. Der Rauch vernebelte nicht nur den Raum, auch seinen Geist gelöst und voller Zuversicht jagdte ihm das zischen seines eigen Blutes auf der glühenden Kohle keine Angst ein. Es roch nicht einmal.
Er reichte ihm ein Leinenband, verschlang dann die Hände und ging auf die Knie. Jonathan sprach: "Und nun lasset uns beten.

Herr, der du bist im Himmel, erlaube der gequälten Seele mit uns zu sprechen, auf daß wir ihr in deinem Namen Linderung verschaffen können, auf daß sie den Weg zu deinem Gericht findet. Herr, der du bist im Himmel, erlaube..."

Er reihte die Folge der Worte endlos aneinander. Zeit verstrich. Minuten zogen unerkannt vorbei.
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« Antworten #94 am: Juni 05, 2009, 13:17:55 »

Remy kniete und betete, wie der alte Mönch es ihm geheißen hatte. Doch spürte er auch deutlich wie seine Sinne zu schwinden begannen. Es mochte am Weihrauch liegen, oder an den sich ständig und monoton wiederholenden Worten, die seinen Verstand einlullten, wahrscheinlich war es beides zusammen.

Seine Lider wurden schwerer, und immer öfter schloss er sie nun, entgingen seine Augen doch so dem Rauch aus der Schale.

Wie viel Zeit mochte so vergangen sein? Remy hätte es nicht sagen können, zu schwer war sein Kopf und zu träge sein Verstand geworden. Aber er wollte daran glauben, dass ihm dies Antworten brachte, und er legte all diesen Glauben und all seine Hoffnung in das immer wiederholte Gebet, das er nun schon seit gefühlten Stunden gemeinsam mit Jonathan sprach.
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« Antworten #95 am: Juni 12, 2009, 00:57:08 »

Kurz bevor Remys Geist ganz in die Welt die nur ihm und Gott gehörte abdriftete, stellten sich plötzlich und unvermittelt seine Nackenhaare auf. Gänsehaut breitete sich von dort aus. Es geschah...etwas. Der Weihrauchnebel zog sich aus dem Raum zurück und sammelte sich in der Luft über der Kohleschale, und verdichtete sich weiter, bis er zu einer nebeligen, aber dennoch irgendwie festen Masse. Aus dem Kokon formte sich ein Körper heraus.
Die ganze Zeit führte Jonathan sein Singsang fort.
Ein überraschter Ausruf blieb Remy im Halse stecken. Die Form, die der Rauch annahm, als er das feingliedrige Gesicht formte, ähnelte ihr.
Der weißen Frau.
Die Gitter seines Unsichtbaren Gefängnisses wuchsen fast bildlich vor seinen Augen. Er war eingesperrt, unfähig sich ohne Hilfsmittel mitzuteilen.
Remys Aufmerksamkeit wurde auf Jonathan gelenkt. Er schwieg. Sein Gesicht wirkte noch blasser als sonst.
Dann sagte er nochimmer mit gesenktem Haupt: "Danke, oh Herr, daß du unsere Gebete erhörtest. Amen," schloß er. Bestimmt richtete er seine in die Höhlen zurückgezogenen Augen auf die Person aus Rauch.
"Ich bin Bruder Jonathan. Jonathan von Sternberg. Ich heiße dich Willkommen in unserer Welt. Bist du Gewillt, mir und meinem Freund Remy Rede und Antwort zu stehen, Reisende durch die Welten?"
Die Rauchgestalt öffnete den Mund.
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« Antworten #96 am: Juni 12, 2009, 01:18:37 »

Remy war wieder hellwach. Die Gänsehaut kroch über seinen ganzen Körper, als er die Gestalt betrachtete und der Wiedererkennungseffekt einsetzte. Ja, ja! Das war sie doch! Mit seinen ganzen Sinnen, seinem ganzen Wesen streckte sich Remy der Erscheinung entgegen, ohne dabei auch nur einen Muskel zu rühren.

Dann erklangen die Worte von Jonathan und urplötzlich bekam Remy eine neuerliche Gänsehaut. Es schien fast, als wäre Jonathan auf einmal ... fremd. Die Stimme war dieselbe, seine Worte waren klar verständlich und präzise, und er war immer noch derselbe Mann. Und doch konnte Remy sich dieses Gefühls der Befremdung nicht erwehren. Fast so, als wäre diese Begegnung mit der Erscheinung etwas Vertrautes, etwas Intimes, und Jonathan ein Beobachter oder Eindringling.

Doch dieser Gedanke war im selben Augenblick fortgewischt, als die Gestalt aus Nebel Geräusche von sich gab. Remy legte den Kopf schief und griff mit seinem Gehör nach vorn, die Klänge umklammernd. Seine Ohren fingen jeden noch so kleinen Laut ein, und sein Kopf begann angestrengt zu arbeiten, suchte nach Sinn und Mustern im Gehörten, um sie mit allem zu vergleichen, was er bereits kannte.

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« Antworten #97 am: Juni 14, 2009, 15:57:54 »

Remy konnte die Worte, die aus dem Geistermund der Frau kamen, nicht verstehen. Er mußte sich darauf beschränken, sie geitig in seinem Verstand niederzuschreiben, um vielleicht später ihren Sinn zu erfahren. Die Sprache war hart und alt. Jahrhunderte mußte ihr täglicher Gebrauch zurückliegen. Vielleicht eine Form des Germanischen...

Zuerst sagte die Weiße einen Satz auf Jonathans Frage... und er antwortete ihr auf die gleiche Weise. Er brauchte zwar länger als sie, um Sätze zu formen, ob es an der vorsichtigen Wortwahl oder an Übersetzungsschwierigkeiten lag, konnte er nicht ausmachen.
Sie unterhielten sich auf ruhige erklärende Weise, die garnicht zum erschrockenen Gesichtsausdruck Jonathans passen wollte. In Remy erwachte der Wunsch, seine Gedanken lesen zu können, so lange zog sich der nur minutenlange Wortwechsel hin.

Gegen Ende redeten beide immer schneller und auch Remy spürte, daß es dem Weihrauchwesen immer schwerer fiel, die Form zu behalten. Schließlich stob es auseinander und Jonathan öffnete das mit Läden verschlossene Fenster, aus dem die Wolke entfloh. Das Gefühl von einer Art heiligen Magie, die den Raum erfüllt hatte, erlosch. Jedoch nicht der Zwang des Schweigens
Jonathan ließ sich auf seinem Sessel nieder. Man sah die Anstrenung seines Geistes deutlich an seinem Körper. Er war noch etwas blasser geworden, und Sorge zeichnete sich ab.
Nach ein paar momenten des Schweigens, in denen nur Remys eigenes Atmen zu hören war,
sprach der alte Erschöfte endlich:
"Remy... ich konnte etwas ergründen...."er druckste etwas herum, "Ihr seid... verflucht. Besser gesagt, nicht ihr - ihr habt selbst nichts unrechtes getan - sondern eure ganz Familie, einen männlicher Nachkommen in jeder Generation müsse sie Heimsuchen. Sie sagte, ihr Name sei einst Ortrud gewesen, und einer eurer Vorfahren hätte sie grausam ermordet."
« Letzte Änderung: Juni 14, 2009, 16:00:51 von Wuschel » Gespeichert
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« Antworten #98 am: Juni 14, 2009, 17:08:58 »

Die Gedanken in Remys Kopf kamen nicht zum Stillstand. Kaum dass er das Schauspiel miterlebt hatte, das ihn sicher noch lange Zeit beschäftigen würde, konfrontierte ihn Jonathan mit neuen Informationen, und die Enthüllung traf ihn wie ein Schlag.

Ein Familienfluch? Warum haben Vater und Großvater nie etwas davon erwähnt? Und waren die anderen Verfluchten meiner Familie auch zum Schweigen verdammt? Doch warum hatte dann niemand den Sachverhalt erkannt, als meine Heimsuchung begann? Irgendwer musste doch etwas wissen!

Die nächste Welle der Gedanken betraf seine Zukunft, nicht seine Vergangenheit.

Aber wieso ich? Wieso bürdet der Herr diese Last ausgerechnet mir auf? Gab ich mich ihm denn nicht schon ganz hin? Prüft er mich und meinen Glauben? Soll ich etwa diesen Fluch von unserer Blutlinie nehmen? Könnte das meine Aufgabe sein, die Schuld meiner Ahnen zu tilgen und der gequälten Seele Ruhe zu schenken?

Er erinnerte sich an den Beginn des Rituals, und wie er noch gedacht hatte, dass sein Blut vielleicht die Erlösung dieser Erscheinung bedeutete. Diese Theorie schien sich nun zu bewahrheiten, alle Enthüllungen sprachen dafür. Es war an der Zeit, in Erfahrung zu bringen, wie er diese Aufgabe bewältigen könnte.

Remy öffnete den Mund, um Jonathan etwas zu fragen, doch lediglich leiser Atem entwich seiner Kehle. Natürlich, das Schweigen lag auf ihm. Und es war ungewiss, wie lange es andauerte. Doch die Suche nach Antworten konnte nicht warten.

Hastig sah Remy sich um, ob sich etwas in der Nähe befand, mit dem er schreiben konnte. Er vergaß dabei völlig sein eigenes Tagebuch, das er doch genau zu diesem Zweck führte. Sein Blick fiel dafür auf das Kohlebecken. Ohne zu zögern streckte er die Hand aus und Griff nach einem Stück, liess es aber sofort wieder fahren, denn es war noch zu heiss. Einen Augenblick lang schüttelte er die Hand, dann pustete er auf die Finger. Seine Augen hingegen hatten bereits ein weiteres Stück Kohle erfasst, das näher am Rand der Schale lag. Vorsichtig griff er danach, und als er sicher war, dass er es gefahrlos greifen konnte, nahm er es in die Hand.

Hastig fegte er mit dem Ärmel Stroh und Staub vom Boden und kratzte mit der Kohle drei Zeilen auf den Boden von Jonathans privater Bibliothek.

Wann und wo?
Welche Sprache?
Wie Erlösung?

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« Letzte Änderung: Juni 14, 2009, 17:10:30 von Aphiel » Gespeichert

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« Antworten #99 am: Juni 15, 2009, 15:04:03 »

Jonathan, der wohl an noch schlimmerer Kurzsichtigkeit litt als Remy, erhob sich, nahm eine Kerze aus der Wandhalterung und ging in die Knie, um die schwarze Schrift auf dunklem Holzboden zu entziffern. Er schien etwas verwundert, wie sich Remys Schweigen äußerte, aber ging nicht darauf ein.
Langsam erhob er sich wieder und sah Remy ernst an. "Setzt euch," sagte er auf seinen bequemen Sessel weisend, "ihr werdet es nötiger haben als ich."

Als er tat wie ihm gehießen spürte er im Sitzen eine unheimliche Entspannung für gewöhnlich saß er auf nacktem Holz. Das letzte Mal hatte er soetwas als Kind erlebt, und ihm wurde bewußt auf was er verzichtet hatte. Die Bequemlichkeit vertrieb jedoch nicht die Anspannung, auch wich sie nicht, als Jonathan endlich zu sprechen began:
"Ich habe noch nicht oft mit den Toten gesprochen. Doch wenn ich es tat, waren sie nie so schwach. Sie können unter uns wandeln, man erkennt sie nicht. Doch deine weiße Frau war von jeher nicht mächtig. Ich erzähle dir die Geschichte, die sie mir weitergegeben hat:
Sie sei eine Germanin gewesen. Als sie 18 Sommer zählte, müßte sie fliehen, warum sagte sie nicht. Halb verhungert kam sie an das anwesen eurer Familie. Es muß wohl, ihrem Germanisch nach zu urteilen, beinahe 1000 Jahre her sein. Sie konnte den Früchten im Garten nicht wiederstehen, und anstatt anzuklopfen, stahl sie. Euer Vorfahr muß wohl sehr grausam und arrogant gewesen sein, denn er erschlug das Mädchen. Ihre Wut darüber trieb sie an, Rache zu nehmen, doch es gelang ihr nicht, eurem Grausamen Vorfahr sein Leben auszuhauchen. Im Leben wie im Tode ist sie schwach, und es gelang ihr nicht nach Generationen einem eurer Familienmitglieder ein Leid anzutun.
Mittlerweile verliert sie selten die Kontrolle und versucht sich so weit sie kann sich von euch fern zu halten. Sie will nicht noch eine weitere Sünde begehen. Mehr konnte ich nicht erfahren, sie konnte nicht lange verweilen. Ich glaube jedoch nicht, daß sie euer Schweigen verursacht. Sie kann nicht einmal unter den Menschen wandeln."
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« Antworten #100 am: Juni 17, 2009, 14:39:43 »

Die verschiedensten Gedanken kreisten durch Remys Kopf, und ohne Möglichkeit sich verbal zu äußern, würden sie dort auch bleiben. Die Methode mit der Kohle war nur eine Notlösung gewesen, aber um all diese Dinge festzuhalten, bedurfte es mehr.

Einen Augenblick lang wunderte er sich noch darüber, dass Jonathan sagte, er hatte noch nicht oft mit Toten gesprochen. Das bedeutete, dass dies nicht das erste Mal gewesen war. Aber hatte er nicht auch gesagt, dass er dieses Ritual nie zuvor durchgeführt hatte? Was bedeutete das nur?

Dann lauschte der Jüngere der Geschichte, die ihm der alte Mönch weitergab. Gewisse Dinge prägten sich ihm dabei ein, Hinweise, denen er später nachgehen würde: Germanische Sprache. Vor 1000 Jahren. Gewiss hatte irgendein Familienmitglied schon einmal Aufzeichnungen angelegt oder Forschungen angestellt. Er würde gewiss einen Einblick in den Familienstammbaum erhalten können, wenn er nur die richtige Person fragte. Das hiess seinen Vater oder Henri. Er würde ihnen einen Brief schreiben müssen, sobald er die Gelegenheit dazu fand.

Dann plötzlich hob Remy den Blick. Was hatte Jonathan da gesagt? Sie war nicht die Quelle seines Schweigens? Dann musst es wohl doch der Allmächtige sein. Oder ... wollte der Gelehrte vielleicht auf etwas anderes hinaus?

Remy dachte einen Moment nach, bevor er sich abermals auf den Boden niederließ, um mit der Kohle eine weitere Zeile hinzuzufügen.

Das Schweigen kommt nicht von Gott?
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« Antworten #101 am: Juni 17, 2009, 16:18:32 »

Jonathan erlas Remys Worte, und sah ihn ernst an.
"Alles ist kommt von Gott Remy. Ich möchte auf folgendes hinaus: Ihr tragt zwar einen Fluch, doch das Schweigen scheint mir eine Reaktion eures erführchtigen Glaubens zu sein. Vielleicht fürchtet ihr euch in eurem tiefsten innern davor, mit der Wahrheit ausgestoßen zu werden - und ihr habt recht, euch zu fürchten.
Ich bin ein Mann des Wissens und des Glaubens. Hätte der Herr nicht gewollt, daß wir die Welt verstehen, wären wir nicht fähig dazu. Doch es brechen Zeiten an, in denen Bildung und Vernunft blind werden. Mächtige Männer werden die Worte des Herrn zu ihrem Vorteil nutzen, noch mehr als es bisher geschah."
Die letzten Worte zeigten wahre Trauer in seinen Augen. Er fuhr fort: "Furcht ensteht meist vor dem Unbekannten, Remy. Könnt ihr euch vorstellen, warum ich mich nicht fürchte?"

Remy spürte ein kitzeln in der Luft. Eine Epiphanie würde gleich sein Weltbild auf den Kopf stellen, wie damals als er als Kind das erste Mal von der weißen Frau besucht worden war, das spürte er. Offensichtlich ließ Jonathan ihm Zeit seinen Geist zu wappnen bevor er fortfuhr.

"Ich habe die Grenze des Todes bereits überquert," sagte der Alte ernst, "doch bin ich hier. Ich suche die Geheimnisse des Todes, der anderen Seite. Den Grund meiner Existenz."
Remy mußte wohl einen ziehmlich fassungslosen Gesichtsausdruck an den Tag gelegt haben, so wie Jonathan weitersprach: "Ihr glaubt mir nicht? Lasst es mich beweisen."
Jonathan enblößte seine Brust. Er war unglaublich dünn, daß sich jede Rippe abzeichnete. Seine Haut war tatsächlich blaß wie die einer Leiche. Er trat an Remy heran, nahm seine Hand und führte sie zu seinem Herzen. Fast hätte er zurückzucken müssen, denn die Haut war eiskalt und fühlte sich irgendwie... leblos an.
Zuerst mußte Remy glauben daß es eine Täuschung war. Aber das Herz des Alten regte sich nicht. Remy spürte sein eigenes bis zu Hals schlagen, aber es bestand kein Zweifel.
Nach allem was er über das Leben wußte, war dieser Mann tot.
Sein Herz schlug nicht.
Er atmete nicht einmal.
« Letzte Änderung: Juni 17, 2009, 18:41:32 von Wuschel » Gespeichert
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« Antworten #102 am: Juni 17, 2009, 17:35:22 »

Remy hielt die Berührung nur einige Augenblicke lang aus. Kaum dass sich der Griff von Jonathan nur leicht lockerte, riss er sofort seine Hand zurück und stolperte einige Schritte zurück, bis er gegen ein Hindernis stiess. Seine Blicke waren jetzt angsterfüllt, geradezu panisch, als sein Kopf zu begreifen versuchte, was seine Sinne ihm hier soeben vermittelt hatten. Selbst jetzt, wo der Kontakt gebrochen war, schien es ihm, als würde die Kälte von Jonathans Fleisch noch immer seinen Arm hinaufkriechen, bis direkt in sein Herz. Mehr als eine bloße Gänsehaut durchfuhr ihn vom Kopf bis in die kleinsten Zehenspitze.

Wie ist das möglich? Wie kannst du tot sein und doch am Leben? Welch Teufelswerk hat dich so werden lassen? Welcher Natur ist diese Blasphemie?

Remys Geist schrie diese Fragen förmlich in Jonathans Richtung, und doch blieb es still in der Kammer, bis auf Remys aufgeregten Atem. Doch wurde dieser mit jeder Minute langsamer, und mit jedem Atemzug griff der Verstand ein wenig mehr. Vielleicht war das Schweigen in diesem Augenblick sogar ein Segen, zwang es doch den jungen Franzosen sich seinen Gedanken zu stellen.

Ein lebender Toter konnte kein Mann des Glaubens sein, und doch war Jonathan es, er hatte es spüren können. Ein lebender Toter konnte nicht existieren, ohne dass Gott es ihm gestattete. Ein lebender Toter auf heiligen Boden wäre nicht möglich, außer durch Gottes Willen.

Ein lebender Toter durch den Willen des Herrn und Erlösers...

Es war letztendlich die reine Neugier, die Remy dazu brachte, sich soweit zu entspannen, dass er sich wieder aufrichten konnte. Und es war die Neugier, die ihn einen zögerlichen Schritt nach vorn tun liess, wo er mit zitternden Fingern erneut die Kälte von Jonathans Körper fühlte, um sich zu vergewissern, dass dies wirklich und wahrhaftig die reine Wahrheit war. Und es war die Neugier, die Remy erneut nach dem Stück Kohle greifen liess, das er hatte fallen lassen, um eine weitere Frage zu den anderen zu schreiben, eine Frage, deren Antwort er in diesem Augenblick der Enthüllung so sehr begehrte, wie die Luft zum Atmen.

Bist du Lazarus?
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« Antworten #103 am: Juni 18, 2009, 01:58:59 »

Er... lachte.
Diesmal hatter sich nicht niedergebeugt, und ohne Schwierigkeit die Worte erkannt. Sein Lachen war herzlich, ganz so, wie Erwachsener lachte, dessen Kind gerade mit einfachsten Worten eine tiefe Erkenntnis von sich gab, ohne sich deren Sinn bewußt zu sein.
Er fasste sich wieder: "Remy, ich muß sagen, ihr seid außerordentlich. Tatsächlich ist Larzarus einer meiner Ahnen. Doch die Bibel, die ihr zu lesen bekommt, sagt nicht die ganze Wahrheit über ihn." Er lächelte. "Ja ganz recht Lazarus ist ein wandelnder Toter geworden, wie ich es bin, und er wandelt noch heute unter den Menschen. Wir verbergen uns. So mächtig wir auch werden je älter wir sind, ein Mob mit Fackeln oder gar ein Inquisitor ließen keine Zeit für ..."
Er seufzte: "Nun ist es sowieso zu spät... Ich entstamme einer Ahnenlinie die seit anbeginn der Menschheit neben ihr existiert. Ihr seid ein Kind des Seth, so wie ich es einst gewesen bin. Doch das Blut in meinen Adern ist gespendet von Kain, Adams Sohn, der sich vom Herrn abwandte."
Jonathan sah Remy ernst an. Seine Augen durchbohrten ihn. Nachdenklich legte er den Kopf schief. Remy konnte sich eines Gefühls der Beobachtung, nein schlimmer, der Prüfung nicht erwehren.

"Ich will euch vor eine Wahl stellen...," sagte Jonathan endlich nach ewigen Minuten der Stille. "Doch bevor ihr wählt, denkt gut nach, denn beides bedeutet den Tod.
Erstens," er begann an den Fingern abzuzählen,
"ich erteile euch die letze Ölung und bereite euch danach ein schnelles Ende. Eure Seele ist  rein. Auf euch wartet die Ewigkeit im Paradies, jedoch ohne Entwicklung
Oder zweitens,
ihr gebt euer Leben auf, übertretet die Schwelle des Todes, um Wissen zu erlangen, das der Menscheit auf ewig verborgen liegt. Ein ewiges Leben ohne Tod, Krankheit oder Alterung läge vor euch. Fähigkeiten könnt ihr erlangen, von denen kein Mensch zu träumen wagt. Doch lebtet ihr außerhalb der Gnade des Herrn, bis ihr sie wiedererlangen könnt, denn die Toten sind unheilig."
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Aphiel
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Stier


« Antworten #104 am: Juni 18, 2009, 03:29:20 »

Falls Jonathan auf eine schnelle und eindeutige Antwort hoffte, wurde er enttäuscht, denn nun war es Remy, der sich Zeit liess, und davon reichlich. Es verging fast eine halbe Stunde, bis Remy wieder in der Lage war, etwas zu tun.

Die ersten Minuten waren die schlimmsten, da sich reine Verzweiflung in sein Wesen bohrte. Er erkannte mühelos, dass die Situation, in der er sich nun befand, keinen anderen Ausweg bot als den Tod. Entweder er starb und nahm Jonathans Geheimnis mit ins Grab, oder er wurde ein Teil davon. Seine Existenz in dieser Welt wäre in jedem Falle vorbei, so viel war ihm bewusst. Doch war das Gottes Wille gewesen? War dies der Plan des Allmächtigen für ihn, dass er die Reliquie von Bartholomäus retten sollte? Und nun da diese Aufgabe erfüllt war, erwartete ihn unausweichlich das Ende?

Der junge Mönch fühlte sich ein wenig wie Moses, der vor seinem Tod das gelobte Land zwar sehen, aber es nie betreten durfte. Nun zeigte ihm Jonathan den Weg in eine andere Welt, um ihm den Zugang dazu zu verwehren. Oder zu ermöglichen. Die Wahl war seine. Aber welchen Weg hatte Gott für ihn vorgesehen? Oder war genau dies Gottes Wille, dass er nun selbst wählen konnte?

Remy hatte sich inzwischen gesetzt. Er faltete die Hände wie zum Gebet, und presste die Knöchel gegen seine Lippen, während er weiter nachdachte. Es gab viele Dinge zu bedenken, und wenn der Tod in beiden Fällen die einzige Konstante war, worin lag dann der größere Gewinn?

Jonathan hatte von Wissen erzählt, von Fähigkeiten die jenseits der Grenzen der menschlichen Existenz lagen. Meinte er damit etwa auch solches Wissen, wie sie es verwendet hatten, um mit der weissen Frau zu sprechen? War dies nun der Weg zu ihrer Erlösung? Indem er tat, was keiner seiner Familie vor ihm getan hatte? Natürlich könnte er dieses Opfer bringen. Ein Leben für ein Leben. Vielleicht wäre damit ihr Exil beendet und ihre Seele befreit? Und der Fluch, der auf seiner Familie lastete wäre endgültig gebrochen. Aber um dies genau zu wissen, hätte er noch einmal mit ihr reden müssen. Und sie zu rufen stand nur jenen lebenden Toten offen.

Andere Gedanken drängten sich in seinen Schädel. Jonathan hatte davon gesprochen, außerhalb der Gnade des Herrn zu existieren, und doch lebte er in einem Kloster, als gläubiger Mensch, zwar ein wandelnder Toter, aber fest im Glauben. Der Allmächtige hätte nie gestattet, dass ein unheiliges Wesen in der Nähe der heilige Reliquie bestehen konnte. Doch Jonathan hatte sie direkt vor sich gehabt. Er selbst hatte den Glauben in Jonathan fühlen können. Es musste mehr an dieser Ahnenlinie dran sein, als er bisher gesagt hatte. Der Alte lebte doch seine Existenz als wandelnder Toter mit der Zustimmung des Allmächtigen. Und seine Formulierung hatte nahegelegt, dass es möglich war, die Gnade des Herrn wiederzuerlangen.

In Remys Kopf reifte ein Vorhaben heran, das an einen waghalsigen Entschluss geknüpft war. Wenn es alles stimmte, dann konnte er die Pforte des Todes durchschreiten und dennoch Erlösung finden. Er konnte den Fluch seiner Familie brechen und doch Gottes Gnade erlangen. Und er würde Wissen erlangen, hatte Jonathan angekündigt. Vielleicht gehörte das Wissen um die Erlösung ja auch dazu? Und wer weiss, was er noch alles finden würde? Allein die kleine Bibliothek in diesem Raum enthielt sicher ungeahnte Schätze und Geheimnisse. Und wenn er schon sterben musste, konnte er es auch in dem Versuch tun, seiner Familie und ihren Nachkommen das finstere Zeichen der Schuld zu nehmen, dessen Auswirkungen er selbst in Gestalt der weissen Frau mehr als sein halbes Leben lang erlebt hatte.

Remy fühlte, wie er dazu neigte, seine Wahl zu treffen. Zu verlockend war es, dieses unerreichbare Wissen zu versuchen. Und Jonathan hatte ihm versprochen, dass weder Krankheit noch Alter noch Tod ihn berühren konnten. Doch eine innere Stimme gemahnte ihn immer wieder zur Vorsicht ob der wenigen Fakten, und er gab ihr ebenfalls recht. Er musste noch mehr über das erfahren, was ihn in einer solchen Existenz erwartete. Noch war seine Seele rein und noch konnte er das Paradies unbescholten erreichen. Er brauchte mehr Informationen.

Mittlerweile hatte er sich soweit gefasst, dass sein Atem wieder ruhig und seine Gedanken klar waren. So kam es auch, dass er sich wieder seiner Tasche entsann und der darin enthaltenen Dingen, auch seinem Schreibwerkzeug. Es war schon fast lächerlich: da hatte er mit Kohle auf den Boden geschrieben wie ein Heide, und dabei hing doch die Antwort um seinem Hals. Remy tastete nach dem Notizbuch unter seiner Kutte und förderte sein Schreibwerkzeug zu Tage. Er hatte noch Fragen an Jonathan, die beantwortet werden mussten, bevor er endgültig eine Entscheidung treffen konnte. Sorgsam schrieb er sie auf eine leere Seite seines kleinen Büchleins. Noch während er sie niederschrieb kamen ihm neue Gedanken und so strich er bisweilen eine Zeile aus und ersetzte die Frage durch eine andere.

Die ersten Fragen waren unverholen neugierig.
Wieso lässt Gott so eine Existenz überhaupt zu, wenn Kain sich doch von ihm abwandte?
Warum gi Was ist der Zweck dieser Existenz?
Wieviele gibt es, die so sind wie Ihr?
Wie kommt das Blut Kains in Eure Adern?


Die zweiten Fragen waren eher pragmatischer Natur, sie bezogen sich direkt auf das, was Remy sich überlegt hatte.
Werde ich den Fluch brechen können, der auf meiner Familie lastet, wenn ich Euer Angebot annehme?
Gibt es einen Weg zurück in die Gnade Gottes? Ihr sagt, dass die Toten unheilig sind, doch selbst könnt Ihr in der Gegenwart der Reliquie und auf heiligem Boden bestehen. Wie geht Es gab also eine Erlösung für Eure Seele?
Würde ich diese Erlösung ebenfalls erlangen können?


Die letzten Fragen hingegen waren ziemlich persönlich, doch Remy würde verstehen, wenn Jonathan sie nicht beantwortete.
Weiss Guillaume, was Ihr in Wahrheit seid?
Wie alt seid Ihr wirklich?
Hattet Ihr dieselbe Wahl, die ihr nun mir gewährt?


Als er endlich fertig war, reichte er Jonathan das Notizbuch.
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Ihr wünscht Euch mit mir zu messen? Bedenkt, zum wahren Können braucht es Agilität, Grazie und Stil - wie bedauerlich, dass die Passionen an Euch bei diesen gespart haben, mein Freund.

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Remy le Duc (Vampir)
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