Eins
II
In der Höhle des Opferlamms --- 17. Mai 1204, vor den Toren der Stadt Krakau, bei Sonnenaufgang ---Als es ihm an der Zeit schien, erhob er sich und machte sich bereit und auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt.
Noch weit vor Tagesanbruch erreichte er die von
ihm beschriebene Stelle, östlich der Stadt außerhalb der Sichtweite des Tores.
Er lagerte sich abseits der Straße und wartete gespannt auf
sein Eintreffen.
Ein Wind wehte ihm um die Nase. In der ferne schien sich ein Sturm zu entladen, doch frischte der Wind nicht weiter auf.
Als sich das erste rosa am Himmel bemerkbar machte, erschien
er.
Er hörte zuerst das Hufgetrappel des Esels - er war mit Taschen bepackt - den der Alte mit sich führte.
Er ging leichten Schrittes, und der Wind spielte mit
seiner Haube, die
er beständig trug.
Er winkte ihm freudig zu.
Als
er ihn erreicht hatte, grüßte
er nochmals: "Ist es nicht eine herrliche Nacht gewesen? Wir werden sehen, was uns der Tag bringen mag."
Er wartete bis er sich vollends aufgerichtet hatte, und sie zogen los, erst einmal die Straße entlang.
Rosa verwandelte sich langsam in Orange.
Der Esel folgte ihnen brav...
--- Östlich von Krakau, eine lange Weile vor der Mittagsstunde ---Mittlerweile hatten sie den Waldrand überschritten, und die Sonne war höher gestiegen.
So vertieft blieb
er unverhofft stehen und sah sich um. Dann schloß
er für einen Moment die Augen und sah sich dann wieder um.
"Hier entlang mein Freund," bedeutete
er. Er stieg durch einige Büsche, hinter denen sich ein kleiner Pfad, der weniger als ein Trampelpfad war, offenbarte.
Das kreischen eines Raubvogels durchzuckte die friedlichen Geräusche des Waldes, doch durch das Blätterdach konnten sie ihn nicht davonfliegen sehen.
Der Esel folgte ihnen brav...
--- Am tiefsten Punkt des Wawel, zwei Stunden vor Mitternacht ---Vor wenigen Wochen noch wären sie von den Sonnenstrahlen geweckt worden, doch nun erhoben sie sich mit dem Ruf der Nacht. Die Vitae regte sich, brannte - und das Bewußtsein kehrte zurück in ihre toten Körper.
Sie rochen den Moder, das rottende Holz, die frische Erde.
Beengt war ihnen.
Sie realisierten es alle zur gleichen Zeit:
Die Höhle, Fürst Krak, die Särge....
Nicht viel hatten sie übereinander erfahren. Wer war vertrauenwürdig, wer nicht?
Der Fürst mit seiner kalten Mine, dem grotesken Ausehen, der Bösartigkeit, die man an ihm spürte?
Sein Diener Igor, verkrüppelt, stinkend, schleimig und im Ganzen abstoßend?
Die Jägerin Nathalia, die am Anfang überaus höflich war, dann aber forsch ihre Gedanken mitteilte?
Der geistliche Bruder Remy, der so viele Fragen stellte, aber zugab sein Aussehen zu verhüllen?
Der schweigsame Kreuzritter Heinrich, der nur wenig über sich Preis gab?
Wie ging es dem gefangenen Mönch Jonathan, Remys Erzeuger?
Und wer war dieser geheimnisvolle Marcin, der womöglich unter den Inquisitoren ein und aus gehen konnte?